Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) entstand in der Zeit des Nationalsozialismus primär als Selektionsapparat im Rahmen einer rassistischen, menschenverachtenden Biopolitik, die die Tradition sozialmedizinischer Prinzipien und einer am Wohl des Einzelnen orientierten Gesundheitsfürsorge und -vorsorge nachhaltig vernichtete (Donhauser, Vossen & Menn, 2013, S. 679-680). Er erlebte in der Zeit des Nationalsozialismus eine bedeutende „Aufwertung“. Im Zuge seiner Neustrukturierung übernahmen die Gesundheitsämter eine zentrale Rolle in der Gesundheitspolitik. Sie wurden zu Schaltzentralen in der so genannten „Erb- und Rassenpflege“ ausgebaut, die die biologistischen bevölkerungspolitischen Vorstellungen und Zielsetzungen des Staates umsetzen sollten. An zentralen Stellen kooperierten die Gesundheitsämter mit den unterschiedlichsten Institutionen und Organisationen des NS-Systems. Amtsärzte sorgten für die Umsetzung der „Erb- und Rassenhygiene“, entschieden über die Zugehörigkeit zum „rassistisch“ definierten „Volkskörper“ und hatten als Gutachter Einblick in die gesundheitliche und soziale Lage großer Teile der Bevölkerung. Eine bislang wenig beachtete Rolle spielten sie im System der Zwangsarbeit (Landesarchiv Baden-Württemberg, 2023).
Das Reichsgesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens von 1934 (GVG) mit seinen drei Durchführungsverordnungen wirkte auch ohne die 1945 entfernte „Erb- und Rassenpflege“ nicht nur als Organisationsrahmen, sondern auch inhaltlich prägend auf Strukturen und Aufgabenfelder des ÖGDs der Bundesrepublik Deutschland bis ins 21. Jahrhundert. Erst 2006 setzte der Bundestag das Gesetz außer Kraft (Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V.).
In den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik war es offenbar den damals tonangebenden Amtsärzten im ÖGD nicht möglich, über die Beteiligung am NS-Unrecht öffentlich zu reflektieren.
Mittlerweile erfolgt sukzessive von immer mehr Behörden und Berufsverbänden auf Bundes- und Landesebene eine Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit. Dies ist für viele kommunale Gesundheitsämter aufgrund häufig mehrerer Gebietsreformen in den letzten Jahrzehnten und oftmals noch dezentraler Aktenaufbewahrung ungleich schwerer. Gleichwohl ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit dringend notwendig, da das damalige Verhalten des ÖGDs eine gewaltige Zäsur für Sozialmedizin und Public Health in Deutschland zeitigte (Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V.).
Auch das Gesundheitsamt der Landeshauptstadt Stuttgart möchte sich mit diesem Thema vertieft auseinandersetzen. Hierfür plant das Gesundheitsamt für Herbst 2024 gemeinsam mit dem Stadtarchiv und dem Klinikum einen wissenschaftlichen Kongress zur Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes während des Nationalsozialismus. Ausgangspunkt hierfür ist die Enthüllung einer Gedenktafel zu diesem Thema am Gesundheitsamt während der Coronapandemie, bei der das Gesundheitsamt den Auftrag hierfür erhalten hat. Ein früherer Mitarbeiter des Gesundheitsamtes, Herr Dr. Marquart, hat hierzu ein sehr bedrückendes Buch ("Behandlungen empfohlen" NS-Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart) veröffentlicht, sodass für Stuttgart eine verlässliche Datenbasis vorliegt.
Berechnungsgrundlage der finanziellen Auswirkungen
Es ist ein Format mit folgenden Inhalten geplant:
· Installation der Wanderausstellung der Charité zu diesem Thema („Volk, Gesundheit, Staat“) im Rathaus
· Begleitende Vortragsreihe mit den thematischen Schwerpunkten Zwangsarbeit, Euthanasie, Zwangssterilisation sowie die Rolle einzelner Personen (z.B. Walter Saleck, der zweifache Direktor des Städtischen Gesundheitsamts Stuttgart), Flucht und Vertreibung
· Podiumsdiskussion unter Beteiligung von Fachexpert*innen sowie Vertreter*innen aus der Politik
· Führungen durch Bunker (Krankenhausbunker im Gesundheitsamt sowie im Klinikum) / Splitterschutzgräben
· Publikation (online)
Die konkrete Ausgestaltung und die jeweils anfallenden Kosten befinden sich aktuell noch in der Planung und Klärung.
Folgende Kosten werden aktuell kalkuliert:
· Honorar sowie Reisekosten für die Referent*innen
· Honorar für die Durchführung der Führungen
· Kosten für die Wanderausstellung
· Kosten für die Erweiterung der Ausstellung mittels Vitrinen
· Kosten für Layout / redaktionelle Überarbeitung der Publikation
Es wird mit einem Mittelbedarf von etwa 15.000 EUR gerechnet. Die Mittel werden im Rahmen der Verwaltungszuständigkeiten von der Verwaltung zur Verfügung gestellt.
Der Gemeinderat nimmt Kenntnis, dass die Verwaltung einen Fachtag zur Aufarbeitung der Rolle des öffentlichen Gesundheitsdienstes während der NS-Zeit im Jahr 2024 plant.
Literaturverzeichnis
Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. . (2017). Erklärung zur Rolle der Gesundheitsämter in der NS Zeit. Von http://bvoegd.de/wp-content/uploads/2018/04/BVOeGD_Erklaerung_OeGD_NS-Zeit.pdf abgerufen Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. (kein Datum). BVÖGD. Von Der Öffentliche Gesundheitsdienst in den Jahren 1933 bis 1945: https://www.bvoegd.de/oegd-1933-45/ abgerufen Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V. (kein Datum). BVÖGD. Abgerufen am 2. Juni 2023 von Der Öffentliche Gesundheitsdienst in den Jahren 1933 bis 1945: https://www.bvoegd.de/oegd-1933-45/ Donhauser, J., Vossen, J., & Menn, T. (2013). Öffentlicher Gesundheitsdienst stellt sich NS-Vergangenheit. Gesundheitswesen, S. 679 - 680. Landesarchiv Baden-Württemberg. (2023). Landesarchiv Baden-Württemberg. Von Volk - Gesundheit - Staat. Gesundheitsämter im Nationalsozialismus: https://www.landesarchiv-bw.de/de/aktuelles/ausstellungen/75497 abgerufen Landesarchiv Baden-Württemberg. (2023). Landesarchiv Baden-Württemberg. Abgerufen am 2. Juni 2023 von Volk - Gesundheit - Staat. Gesundheitsämter im Nationalsozialismus: https://www.landesarchiv-bw.de/de/aktuelles/ausstellungen/75497 Beteiligte Stellen Die Referate AKR und WFB haben die Drucksache mitgezeichnet bzw. davon kenntnisgenommen. Dr. Alexandra Sußmann Bürgermeisterin -- <Anlagen> zum Seitenanfang