Protokoll: Sozial- und Gesundheitsausschuss des Gemeinderats der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
TOP:
50
1
VerhandlungDrucksache:
GZ:
Sitzungstermin: 29.05.2017
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: BM Wölfle
Berichterstattung:Prof. Dr. Günter (KS), Frau Tietze (SozA)
Protokollführung: Frau Sabbagh fr
Betreff: Kinder psychisch kranker Eltern
- mündlicher Bericht -

Zu den Tagesordnungspunkten 1 und 2 sind auch die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses eingeladen. Diese beiden Tagesordnungspunkte werden gemeinsam aufgerufen, die Aussprache ist nachfolgend wiedergegeben.

Zunächst informiert Herr Prof. Dr. Günter über die Situation von Kindern psychisch kranker Eltern und die Herausforderungen, die sich daraus für die Landeshauptstadt ergeben. Die dabei von ihm verwendete Präsentation ist dem Protokoll als Dateianhang hinterlegt. Aus Datenschutzgründen wird sie nicht im Internet veröffentlicht. Dem Originalprotokoll und dem Protokollexemplar für die Hauptaktei ist sie in Papierform angehängt.

Er betont, dass Stuttgart die Großstadt in Deutschland sei, die die mit Abstand schlechteste Versorgungssituation in der ambulanten Kinder- und Jugendpsychiatrie habe. In Stuttgart seien 4 Kassensitze besetzt, im Großraum Stuttgart 8. Städte vergleichbarer Größe hätten ca. 40 bis 50 Kinderpsychiater, die alle beschäftigt seien. Hinzu komme eine - verglichen mit dem Bundesgebiet - relativ schlechte stationäre Versorgung im Großraum Stuttgart. Positiv sei die gute Vernetzung mit dem Jugendamt und der Jugendhilfe. Im Klinikum gäbe es ideale Voraussetzungen, eine Eltern-Kind-Station für psychisch kranke Eltern und Kinder in Kooperation mit der Erwachsenen-Psychiatrie aufzubauen.

BM Wölfle dankt für den Vortrag und weist auf das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz in Baden-Württemberg hin, das jedoch noch zum Leben erweckt werden müsse.

Zu den Sozialpsychiatrischen Zentren (TOP 2) berichtet Frau Tietze kurz im Sinne der Mitteilungsvorlage, die dem Protokoll mit der NNr. 51 beigefügt ist.

Zur Berücksichtigung der Notwendigkeiten im Strukturellen Rahmenplan merkt BM Wölfle an, diese wäre wünschenswert, doch sei dessen Volumen garantiert ausgeschöpft. Die Notwendigkeit werde dadurch aber nicht geringer.

Die Vertreter der Fraktionen danken für die Ausführungen.

StRin Bulle-Schmid (CDU) sieht die Stadt in der Verpflichtung und Verantwortung, möglichst alles dafür zu tun, dass diesen Kindern geholfen werde. Das Geringste sei die Umsetzung der GRDrs 113/2017. Die Kinder brauchten einen verlässlichen Ansprechpartner, der in einer isolierten Kleinfamilie fehle. Das Thema Eltern-Kind-Station sollte auch im Krankenhausausschuss aufgerufen werden. Auch für diese Kinder müsse das Bestmögliche getan werden. BM Wölfle greift die Anregung, den Bericht auch im Krankenhausausschuss vorzustellen und darüber zu beraten, auf.

Eine große Schwierigkeit sieht StRin Nuber-Schöllhammer (90/GRÜNE) darin, die Kinder in solchen Situationen auszumachen, da diese "kleinen Erwachsenen" es sehr lange schafften, die Familienstruktur nach außen aufrechtzuerhalten. Hier wären Netzwerke sehr wichtig. Ihrer Erfahrung nach kämen fast alle Kinder, die später in Pflegefamilien lebten, aus diesen schwierigen Verhältnissen. Hier müsste man früher ansetzen. Diese Angebote seien sehr wichtig.

Sie bestätigt die schlechte strukturelle Versorgung an Kindertherapeuten in Stuttgart und fragt nach Lösungsansätzen für kommunale Träger. An dieser Stelle weist BM Wölfle darauf hin, dass man Kassen durch öffentliche Diskussionen beeinflussen könne.

Sinngemäß äußert sich StRin Gröger (SPD). Dem Ausschuss seien die Situation der Kinder und die langen Wartezeiten aus früheren Berichten wohlbekannt.

Durch frühe psychische Erkrankung sei in vielen Fällen auch die Einkommenssituation schwierig. Oft seien es Alleinerziehende, die in entsprechenden Wohngegenden in ihrem Einzelschicksal aufgrund ihrer großen Zahl nicht richtig wahrgenommen würden. Wenn die Hauptverantwortung, wie oft gesagt, bei den Erwachsenen liegen müsse, frage sie sich, an welche Erwachsenen hier gedacht sei, da es keine ausreichenden Familienstrukturen mehr gebe.

Die Notwendigkeit einer Eltern-Station liege seit vielen Jahren auf der Hand, dennoch habe sich hier nichts bewegt. Man brauche ein bestimmtes Umfeld, doch fehlten oft die geeigneten Flächen. So gebe es z. B. am Standort der Psychiatrie am Krankenhaus Bad Cannstatt keine Ausbaumöglichkeiten mehr. Hier vermisse sie eine längerfristige Planung zum Bedarf. Die Botschaft sei klar, wenn man in öffentlicher Sitzung deutlich mache, dass Stuttgart die schlechteste ambulante und offenbar auch stationäre Versorgung habe. Hier bestehe dringender Handlungsbedarf.

Mit Blick auf den Einfluss von Armut und Arbeitslosigkeit sieht StR Pantisano (SÖS-LINKE-PluS) die Landes- und Bundespolitik in der Verantwortung. Wenn die Ausstattung in Stuttgart so schlecht sei, müsse dies verbessert werden, möglicherweise fehle ja auch eine langfristige Planung. In diesem Zusammenhang spricht er die in TOP 2 geforderten Stellenschaffungen an. Diese sollte die Verwaltung in den Haushaltsplan aufnehmen. Falls es Pläne und Konzepte zur Eltern-Kind-Station gebe, bitte er um Übermittlung.

Für die Frage, ob Arbeitslosigkeit und Armut aus psychischer Krankheit resultierten
oder umgekehrt, interessiert sich StR
Dr. Fiechtner (AfD). Man dürfe nicht medizinische Eingriffsmöglichkeiten bei Kindern aus problembehafteten Elternbeziehungen unbillig ausweiten und eigentlich gesunde Kinder zu kranken erklären, was diesen dann langfristig schaden könnte. Mit Blick auf die Unterdimensionierung der Behandlungsmöglichkeiten bei 4 Jugendpsychiatrischen Sitzen in Stuttgart und 8 in der Region fragt er nach dem Ziel einer therapeutischen Intervention und ob dieses erreicht werde. Wenn dies der Fall sei, und z. B. die Persönlichkeit der Kinder stabilisiert werde, könne er die geringe Zahl an Sitzen nicht nachvollziehen. Zu TOP 2 bittet er um Erläuterung der Art der in seinen Augen recht hoch dotierten Positionen. Hier informiert BM Wölfle, die Dotierung der Stellen entspreche den in allen Bereichen üblichen Förderrichtlinien.

StRin Yüksel (FDP) begrüßt die Mitteilungsvorlage zu TOP 2. Erfreulich sei die gute Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und dem Gesundheitsamt.

Im Hinblick auf die Vorlage unter TOP 2 bestätigt Herr Dr. Obert (Caritasverband), dass man für die Kinder sucht- bzw. psychisch kranker Eltern dringend präventive Angebote benötige. Deshalb strebe man die zweite Stelle für Aufwind bzw. die Unterstützung von Kindern psychisch kranker Eltern an. Dringend sei auch die Ausweitung der 8 Gemeindepsychiatrischen Zentren auf die anderen Regionen, da die Anfragen stiegen. Dem von Prof. Dr. Günter genannten Bedarf im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich stimme er zu.

Herr Prof. Dr. Armbruster (Ev. Gesellschaft) erinnert an die Anfänge des Themas psychisch kranker Eltern und ihrer Kinder. Zuvor habe man dies weitgehend ignoriert. Heute ermittle man die familiäre Situation eines psychisch Kranken. Ziel einer sozialpsychiatrischen Betreuung müsse immer auch sein, Eltern zu einer gelingenden Elternschaft zu verhelfen. Dazu habe man eine Kooperationsvereinbarung mit dem Jugendamt abgeschlossen und kümmere sich intensivst um die Netzwerkarbeit zwischen Sozialpsychiatrie, Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. In einer solchen Atmosphäre der Entstigmatisierung erreiche man die Familien, und zwar Eltern und Kinder.

Aus Sicht der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie unterstreicht auch Herr Prof. Dr. Etzersdorfer (Furtbachkrankenhaus) die Bedeutung dieser Thematik. Akut erkrankte Eltern könnten die Sorge für ihr Kind zumindest vorübergehend völlig verlieren. Und je nach Alter nähmen Kinder belastende Situationen unterschiedlich wahr. Er verweist auch auf eine von der Genetik unabhängige transgenerationale Weitergabe psychischer Probleme aufgrund von Erfahrungen. Um dies zu durchbrechen sei eine Hilfestellung unerlässlich.

Frau Blankenfeld (Kommunalverband für Jugend und Soziales BW) macht auf den eklatanten bundesweiten Mangel an Fachärzten vor allem im Bereich der Psychiatrie aufmerksam und fragt, wie man kommunal damit umgehe.

Auf Beispiele in anderen Ländern, wo ganze Familien stundenweise betreut würden, um einen stationären Aufenthalt in einer Klinik im Vorfeld zu vermeiden, weist StRin Vowinkel (SPD) hin.

BM Wölfle bestätigt, dass das Problem grundsätzlich nicht neu sei, jedoch zahlenmäßig zugenommen habe und so mehr Aufmerksamkeit erhalte. Im Zusammenhang mit der Neuordnung der noch zu belegenden Neubauten des Klinikums habe man die Chance, dem gestiegenen Bedarf besser Rechnung zu tragen.

Eine zusätzliche Herausforderung stelle die gute Kooperation dar. Hier seien nicht nur die Institutionen gefragt, sondern die Kinder brauchten vor allem eine verlässliche Person. Das sei nicht einfach zu organisieren.

Auf Nachfrage von StRin Bodenhöfer-Frey (FW) führt Herr Prof. Dr. Günter aus, in Stuttgart lebten mehr als 20.000 Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil. Circa 15.000 von ihnen erlebten die Aufnahme eines Elternteils in eine Klinik.

Die Diskussion über genetische und soziale Faktoren werde kontrovers und hochideologisch geführt und erfahre alle paar Jahre einen Wandel. Beides spiele eine Rolle, doch könne man die Genetik bisher nicht beeinflussen, weshalb man mit den anderen Faktoren arbeiten müsse.

Auch er sehe eine zu starke Medizinalisierung bzw. Pathologisierung. Doch gehe es zum einen darum, niederschwellig einzugreifen an einem Punkt, an dem zwar medizinische Kenntnisse erforderlich seien, nicht aber eine Behandlung. Und zum anderen müsse man schwere Erkrankungen unter anderem aus prophylaktischen Gründen behandeln. In der Regel seien die Effektstärken für psychiatrische/psychotherapeutische Behandlungen relativ hoch und häufig höher als das, was man im somatischen Bereich erreichen könne. Diese sehr guten Behandlungsmöglichkeiten stießen jedoch an ihre Grenzen, wenn es nur 4 niedergelassene Kinderpsychiater gebe. Wartezeiten von einem Jahr seien nicht ungewöhnlich - mit entsprechenden Folgen für z. B. fünf- oder auch dreizehnjährige Kinder. Einer der Gründe sei, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Stuttgart eigentlich erst von seinem Vorgänger aufgebaut worden sei. Die Kassenärztliche Vereinigung blockiere nicht, doch seien von 17 Kassensitzen in Stuttgart 13 frei. Das Problem sei, dass es in Deutschland zu wenige Kinderpsychiater gebe. Als solcher habe man auch z. B. in Karlsruhe oder am Bodensee genug zu tun, wogegen man in Stuttgart von Kindern und Familien förmlich überrannt werde, und deshalb nur diagnostizieren, nicht aber weiterbehandeln könne. Dies sei unattraktiv. Eine Lösung sehe er darin, die Ambulanz auszubauen. Dort müssten nicht unbedingt Fachärzte tätig sein, sondern man könne auch Psychologen einstellen und mit ausbilden. In Stuttgart sei traditionell vieles in der Jugendhilfe lokalisiert worden. Er halte es für sinnvoll, mit dem Jugendamt zu kooperieren und dort dafür eine Stelle zu schaffen, die von Kinderpsychiatern fachlich begleitet werde, oder umgekehrt in der Kinderpsychiatrie eine Stelle einzurichten, die vom Jugendamt bedient werde.

Das Methadonprogramm sei in Familien problematisch. Man lasse Kinder in solchen Familien, weil diese nach außen sozial geordnet erschienen. Die Kinder seien jedoch vollkommen depriviert und hätten dauerhaft schwerste Störungen in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung. Dies gelte vor allem für die unter 3-Jährigen. Hier könne man z. B. in einer Anlaufstelle intensiv überlegen, was ein solches Kind konkret brauche, wenn z. B. beide Eltern drogenabhängig seien. Er halte es deshalb für wichtig, die medizinische Versorgung nicht gegen die soziale Versorgung bzw. Jugendhilfe auszuspielen. Dies müsse vielmehr ineinandergreifen. Die Klinik und die Jugendhilfe seien aufeinander angewiesen. Er stehe in regelmäßigem Kontakt mit dem Jugendamt und dem Gesundheitsamt. Die Vernetzung und Kooperation funktioniere in seinen Augen sehr gut in Stuttgart.

Die Eltern-Kind-Station gebe es bundesweit nur an ein oder zwei Stellen. Hier würden beide erkrankten Teile miteinander aufgenommen und interaktiv behandelt. Dies wolle man zunächst der Geschäftsführung und dann auch dem Krankenhausbürgermeister vorschlagen.

Die bauliche Situation sei mit drei Standorten sehr schwierig. Er halte den Bau einer neuen Klinik für notwendig und auch EBM Föll habe ihm signalisiert, dass sich die Stadt dieses Problems bewusst sei.

Bis vor fünfzehn Jahren habe es keinerlei Bewusstsein gegeben, wie wichtig eine Vernetzung der Erwachsenen- und Kinder- und Jugendpsychiatrie sei. Dafür brauche man Ansprechpartner sowie verlässliche Patenmodelle. Strukturen seien vorhanden, doch müssten diese zu einer guten Versorgung der Kinder zusammengefügt werden.

BM Wölfle sagt den Mitgliedern des Ausschusses die unverzügliche Übermittlung der präsentierten Unterlagen zu.

Gegenüber StRin Gröger erklärt er, die Verwaltung nehme den Gedanken, die im kommenden Doppelhaushalt beantragten Stellen prozentual zur Herausforderung zu verteilen, auf.

StR Dr. Fiechtner bittet, nochmals der Tatsache nachzugehen, dass von 17 vorhandenen Sitzen 13 nicht belegt seien. Und dies trotz einer erheblichen Nachfrage und obwohl Stuttgart mit zu den attraktivsten Städten in Deutschland gehöre. Hierzu merkt BM Wölfle an, er habe die Ausführungen von Prof. Dr. Günter so verstanden, dass man sich um attraktivere Arbeitsbedingungen bemühen müsse. Am Verdienst liege es nicht und auch nicht an den Kassen. Herr Prof. Dr. Günter ergänzt, in dem Moment, in dem eine bessere Versorgung aufgebaut werde, würden die Arbeitsbedingungen für Niedergelassene attraktiver. Im stationären Bereich liege es aber an den Kassen, die dort eine sehr rigide Restriktionspolitik betrieben. Baden-Württemberg habe nur zwei Drittel der im Bundesdurchschnitt üblichen Betten.


BM Wölfle fasst zusammen, dass es gemeinsamer Anstrengungen bedürfe. Das Verständnis für dieses Anliegen sei inzwischen gewachsen. Mit dem Dank an die Vortragenden stellt er abschließend Kenntnisnahme fest.

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