Protokoll: Jugendhilfeausschuss des Gemeinderats der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
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VerhandlungDrucksache:
GZ:
Sitzungstermin: 29.06.2020
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: BMin Fezer
Berichterstattung:die Vorsitzende, Frau Jung (Caritas), Herr Mauch (eva)
Protokollführung: Frau Kappallo
Betreff: Ausschreitungen am Wochenende in der Stuttgarter Innenstadt (20./21.06.2020) und Einrichtung einer
Sicherheitspartnerschaft "Sichere Innenstadt 2020"
- mündlicher Bericht -

BMin Fezer geht auf die Vorkommnisse am 20.06.2020 in der Innenstadt und auf konkrete Maßnahmen vonseiten der Stadtverwaltung ein. Im Anschluss werden Herr Mauch und Frau Jung als Vertreter und Vertreterin der mobilen Jugendarbeit und des Streetwork in der Innenstadt berichten. Die beiden Vertreter hätten sich am letzten Wochenende Eindrücke verschafft und seien im Gespräch mit jungen Menschen gewesen, so die Vorsitzende.

Darüber hinaus berichtet BMin Fezer, die Stadtverwaltung habe sofort eine Task Force sowie einen großen Runden Tisch eingerichtet und berät über Konsequenzen. Diese konzentrierten sich in der Folge auf die Aspekte der Jugendhilfe und auf erste Maßnahmen. Mitarbeiter/-innen der mobilen Jugendarbeit sowie Mitarbeiter/-innen des Jugendamts und Akteure der Jugend- und Erziehungshilfe seien bei diesen Maßnahmen involviert. In vielen Bereichen und Tätigkeitsfeldern der Akteure hätte im Nachgang Kontakt mit Jugendlichen bestanden, und in Gesprächen sei versucht worden, das Geschehene zu verarbeiten. Ein zweiter relevanter Bereich, der die konkreten Straftaten aufarbeitet, besteht aus Kollegen/-innen aus dem Bereich der Jugendhilfe im Strafverfahren, die beim Jugendamt beschäftigt seien; sie hätten unmittelbaren Kontakt zu den jungen Menschen, die von der Polizei festgenommen worden sind. Auf Grundlage sämtlicher Ergebnisse werde die Fachverwaltung ein Konzept "Integrierte Jugendarbeit Innenstadt" entwickeln, teilt die Vorsitzende mit. Ein weiteres Konzept, "City-Streetwork", werde ebenfalls entwickelt. Eingebunden werden bei diesem Konzept der große Runde Tisch "Sichere Innenstadt 2020", den OB Kuhn ins Leben gerufen habe, und die Arbeitsgemeinschaft Jugendkriminalität.

Die Vorsitzende weist auf die bestehende Sicherheitspartnerschaft zwischen Land und Stadt hin, die vertieft werden solle. Eine der beiden Maßnahmen, welche die Jugendhilfe beträfen, sei die stadtweite Ausdehnung des Hauses des Jugendrechts. Das zweite Haus solle für den Amtsgerichtsbezirk Stuttgart zuständig sein, das derzeitige, das inzwischen 21 Jahre alt sei, sei bisher nur für das Amtsgericht Bad Cannstatt zuständig. Das Ziel werde laut einer Vorlage des Referats Jugend und Bildung "aufgrund der aktuellen Ereignisse zeitnah angestrebt und mit Nachdruck verfolgt". Eine passende Immobilie fehle noch, "aber sie setze da auf die Hilfe des Landes", sagt die Bürgermeisterin. Eine zweite Maßnahme sei die Einrichtung eines Hauses der Prävention in der Stuttgarter Innenstadt als Basis und Anlaufstation für Streetwork in der City. Gemeinsam werde mit allen Tätigen in der offenen, der verbandlichen, der sozialen, der beruflichen und schulischen Jugendhilfe ein entsprechendes Konzept entwickelt.

Zu den Ursachen der Vorkommnisse werde sie sich nicht äußern, so die Vorsitzende. Allerdings gäbe es nicht den einen Grund für die Ausschreitungen. Viele Gründe und teilweise eine Verkettung von unglücklichen Situationen habe das Fass zum Überlaufen gebracht.

Frau Jung und Herr Mauch stellen sich anschließend kurz vor und berichten über ihre Erfahrungen im Hinblick auf die Historie und die Früherkennung, Prävention und Intervention, was benachteiligte Jugendliche aus Stuttgarter Stadtteilen anbelangt. Nach vielen Medienanfragen mit der Suche nach einem Schuldigen sei die Sprache auf das in der Vergangenheit vorhandene Konzept Streetwork gekommen, teilt Herr Mauch mit. Die Wirkung von Prävention lasse sich allerdings schwer bemessen; was nicht passiert wäre, lasse sich seriös nicht vorhersehen.

Zu den Eindrücken der in der Stadt aktiven 15 Sozialarbeiter/-innen vom letzten Wochenende unterrichtet Frau Jung. Von 20:00 Uhr bis 01:30 Uhr seien die Sozialarbeiter/-innen in der Innenstadt unterwegs gewesen und hätten mit den Jugendlichen gesprochen, die ihre Interessen und u. a. ihr Verständnis für die Polizei verdeutlichten. Die jungen Menschen könnten sehr differenziert auf die Geschehnisse antworten, merkt Frau Jung an. Wertschätzend hätten die jungen Menschen das Interesse seitens der Politik und der Verwaltung wahrgenommen. Zum Ausblick teilt Frau Jung mit, die Akteure werden die nächsten Wochenenden in der Stadt sein, um weiterhin mit den Jugendlichen im Gespräch zu sein.

StRin Nuber-Schöllhammer (90/GRÜNE) weist, bezogen auf die Ausschreitungen, auf die Wichtigkeit einer Ursachenforschung hin. Es werde allerdings nicht schnelle und einfache Lösungen geben. Ihrer Ansicht nach könnten mit aufsuchender Arbeit präventiv derartige Vorkommnisse verhindert werden. Die Stadträtin weist darauf hin, dass die Frühen Hilfen vor 6 Jahren anstelle von City-Streetwork finanziert worden seien, was aktuell von vielen bedauert werde. Allerdings betont StRin Nuber-Schöllhammer, sie warne entschieden vor Schnellschüssen. Stattdessen sollte sich die Situation in anderen Städten, wie sich der Umgang mit Platzverweisen und temporären Alkoholverboten darstelle, angeschaut werden. Darüber hinaus macht sie deutlich, dass nicht nach Stuttgartern mit und ohne Migrationshintergrund Ausschau gehalten werden sollte, sondern es sollte eher auf die Region zugegangen, um in dieser Situation zu kooperieren, nachdem viele Jugendliche an bestimmten Plätzen der City aus dem Umland stammten.

Die Berichterstattung von Herrn Mauch zur Historie von Streetwork bemerkt wertschätzend StRin Ripsam (CDU). Dabei erinnert sie an das Projekt der mobilen Jugendarbeit im Areal des Europaplatzes und im Umfeld des Milaneo. Ihrer Meinung nach müsste nach den Vorkommnissen im Umfeld des einzelnen Täters geschaut und nach Gründen gesucht werden, warum sich derjenige zu solchen Taten hinreißen ließ. Die Täterfrage müsse ebenfalls differenziert betrachtet werden. Diese Ansicht teilt StRin Köngeter (PULS). Bezogen auf die 40 % der Jugendlichen aus dem Umland erkundigen sich StRin Ripsam und StRin Köngeter nach der Vorgehensweise der mobilen Jugendarbeit. StRin Ripsam spricht sich dafür aus, den Jugendlichen, die ohne Gewalt und ohne Exzesse in Stuttgart einfach Spaß haben wollen, daran zu arbeiten, dieser Personengruppe eine Perspektive aufzuzeigen.

Zunächst bedankt sich StR Pantisano (Die FrAKTION LINKE SÖS PIRATEN Tierschutzpartei) bei BMin Fezer, dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt zu haben. In diesem Zusammenhang fragt er nach der Teilnahme des Jugendrats, als Vertreter der Jugendlichen in Stuttgart, am großen Runden Tisch sowie an der Task Force. Darüber hinaus zieht StR Pantisano eine Zusammenarbeit mit der Polizei in Betracht, nachdem viele Jugendliche das Verhalten und das Auftreten der Polizei in den letzten Wochen und Monaten infrage stellten. Neben der Ursachenforschung sollte das Thema Alltagsrassismus in Stuttgart und die Möglichkeit des öffentlichen Raums für Jugendliche betrachtet werden, auf die sich die Anträge Nr. 253/2020 "Jugendpräventionsprojekt City-Streetwork Stuttgart wiederaufnehmen" und "Wiedergutmachungskonferenzen der Willigen ermöglichen" und Nr. 254/2020 "Diskriminierungserfahrungen in Stuttgart erfassen" beziehen.

Dem geäußerten Dank schließen sich StRin Köngeter, StRin Meergans (SPD), Frau Haller-Kindler (OB-KB) und StR Ebel (AfD) an und loben die Berichterstattung von Frau Jung und Herrn Mauch und deren Beobachtungen hinsichtlich der Vorkommnisse und der resultierenden Gemengelage. Die von der Vorsitzenden angekündigte Investition in die Prävention und die Einrichtung einer Basisstation für Streetwork in der City hebt StRin Meergans dankend hervor. Sie erkundigt sich, ob die Jugendhilfe im Strafverfahren (JuhiS) ihre Kenntnisse und Erfahrungen aus der Täterperspektive in die angesprochene Konzeption einfließen lassen werde. Bezogen auf die Plünderungen in der Krawallnacht richtet StR Ebel eine Frage an die beiden Berichterstatter, ob hierbei bestimmte Gruppen Jugendlicher verantwortlich gemacht werden. Angesichts der Ausschreitungen ist StR Ebel der Ansicht, ohne Alkoholeinfluss und monatelanges vorhergehendes Polizei-Bashing wären die Exzesse nicht passiert. Im weiteren Verlauf äußert er sich allgemein zur Bundes- und Weltpolitik und bedankt sich in diesem Zusammenhang bei der Stuttgarter Polizei für ihren Einsatz.

StRin Köngeter bittet die Fachverwaltung um eine schriftliche Aufstellung zu den aktuellen Initiativen und Konzepten, wie die Einrichtung eines großen Runden Tisches und die einer Task Force. Die Einbindung des Jugendrats - auch hinsichtlich der Ursachenforschung - sieht diese Stadträtin als wichtig an. Eine Frage, die StRin Köngeter beschäftigt, ist, ob die Schließungen der Jugendeinrichtungen während der Corona-Pandemie möglicherweise Einfluss auf die Vorkommnisse gehabt hätten.

Herr Alf (Jugendrat) äußert, die für die Ausschreitungen verantwortlichen Jugendlichen seien nicht repräsentativ und eben auch nicht repräsentiert in Stuttgart. Dankbar äußert er sich zur mobilen Jugendarbeit und betont, die Krawalle würden nicht aus dem Nichts entstehen - die Hintergründe der Täter zu eruieren, sieht er als vorherrschend an.

Herr Käpplinger und Herr Arpad loben die differenzierte Betrachtung der Vorkommnisse und der Täter. In der Zukunft werde es ebenfalls nur differenzierte Antworten auf die Herausforderungen geben, betont Herr Käpplinger und geht auf die Notwendigkeit des öffentlichen Raums für die Jugendlichen in Stuttgart ein. Dabei stellt er die Schwierigkeiten des Selbstständigwerdens in Stuttgart in den Vordergrund, angesichts der erschwerten Wohnungssuche. Herr Arpad regt an, die Ursachenforschung auf das gesamte Stadtgebiet auszuweiten, mit einer differenzierten Sichtweise auf die Jugendlichen - nicht nur im Umfeld des Eckensees. Bezogen auf die Gespräche der mobilen Jugendarbeit mit den Jugendlichen interessiert Herrn Arpad, ob auf die Bewegung "Black Lives Matter" Bezug genommen und mit den Organisatoren der Demonstrationen in Kontakt getreten werde.

Die AG Gender, so Frau Olgun-Lichtenberg (OB-ICG) habe sich sehr ausführlich auf die Vorkommnisse bezogen mit der geschlechtssensiblen Arbeit beschäftigt. Dabei sei ihr wichtig, dass Migration und Gewalt differenziert gesehen und behutsam diskutiert werden. Darüber hinaus betont sie, Multiplikator/-innen wie die Gewaltschutzmentoren/-innen müssten nachhaltig gestärkt werden.

Lösungen könnten nur mit und zusammen von Jugendlichen erarbeitet werden, bemerkt Frau Haller-Kindler. Die Jugendlichen müssten respektvoll gehört und in den Fokus gerückt werden. Die Ereignisse könnten nicht unabhängig von der Corona-Pandemie gesehen werden, meint Frau Preiß. Druck und Anspannung lösten sich häufig geschlechtsbezogen, wobei die Jungs mit Aggression reagierten und die Mädchen mit Autoaggression. Bei den Lockerungen seien die Perspektiven für die Kinder und Jugendlichen hintenangestanden, beispielsweise im Bereich der Sportangebote. Wie bereits einige Vorredner/-innen bittet Frau Preiß die Expertise der Jugendlichen bei der Lösung mit einzubeziehen.

Die Anregungen der Mitglieder werden ernst genommen und aufgegriffen, betont die Vorsitzende. Die Bitte seitens der Mitglieder, keine schnellen Lösungen zu unternehmen, finde Berücksichtigung. Die Situation sei sehr komplex. Das hindere die Fachverwaltung allerdings nicht daran, bestimmte Vorhaben in die Wege zu leiten. Prävention sei ein wichtiger Aspekt dabei. Mit allen Tätigen in der offenen, verbandlichen, der sozialen, der beruflichen und schulischen Jugendhilfe werde ein Konzept entwickelt. "Es war ein Fehler, dass wir City-Streetwork vor 6 Jahren nicht fortgesetzt haben", äußert BMin Fezer. Allerdings seien damals Prioritäten zugunsten der Frühen Hilfen gesetzt worden. "Heute wollen wir die präventive Arbeit wieder besser aufstellen, und das wollen wir gut machen", ergänzt die Vorsitzende.

Zum öffentlichen Raum erörtert sie, die Situation sei richtig, dass Jugendliche ihren Platz im öffentlichen Raum finden müssten. Sie macht deutlich, beim einberufenen großen Runden Tisch sei der öffentliche Raum ebenfalls von den Akteuren zur Sprache gekommen. Die Beteiligten, wie z. B. Vertreter/-innen des Nachtlebens und des Einzelhandels sehen die Sache allerdings so, der öffentliche Raum werde von den Jugendlichen in Besitz genommen. Bezogen auf die unterschiedlichen Perspektiven müsse ein Weg gefunden werden, der allen Beteiligten gerecht werde.
Frau Dr. Heynen (JugA) geht auf die Ursachenforschung ein und teilt mit, wenn die Aufenthaltsqualität für alle Beteiligten und Besucher/-innen des Areals erhöht werde, sei dies der wichtigste Präventionsansatz. Mit den Einrichtungen der mobilen Jugendarbeit, der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft, dem Stadtjugendring, der Jugendhilfe im Strafverfahren und der Jugendhilfeplanung werden Schritte zu einem guten Konzept erarbeitet, so die Jugendamtsleiterin. Zur Ursachenforschung zählten ebenfalls die Personen, die gefilmt hätten, die danebenstanden, die die Filme ins Internet hochgeladen und somit für einen positiven Resonanzkörper gesorgt hätten. Diese Personen seien nicht in Untersuchungshaft gelangt. Über diese Personengruppe könne nur über die unterschiedlichen Jugendhilfeeinrichtungen, die in Kontakt mit den Jugendlichen seien, etwas erfahren werden. Die straffällig gewordenen Jugendlichen hätten individuelle Biografien, weshalb sie davon abrate, Rückschlüsse auf die Gesamtgruppe der Jugendlichen vorzunehmen. Die Expertise der Jugendhilfe im Strafverfahren werde für diesen Prozess hinzugezogen. Möglichst zügig werden die Ergebnisse des Prozesses im Jugendhilfeausschuss vorgestellt, ergänzt Frau Dr. Heynen.

Abschließend bedankt sich BMin Fezer - auch im Namen der Verwaltungsspitze - bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der mobilen Jugendarbeit.

Der Jugendhilfeausschuss hat vom Bericht Kenntnis genommen.
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