Stellungnahme zum Antrag
236/2010

Landeshauptstadt Stuttgart Stuttgart, 02/03/2012
Der Oberbürgermeister
GZ: OB 6235



Stellungnahme zum Antrag
Stadträtinnen/Stadträte - Fraktionen
    Dr. Schlierer Rolf (DIE REPUBLIKANER) , DIE REPUBLIKANER im Stuttgarter Gemeinderat
Datum
    08/13/2010
Betreff
    Umbenennung der Clara - Zetkin - Straße in Chris - Gueffroy - Straße
Anlagen
    Text der Anfragen/ der Anträge
Beantwortung/ Stellungnahme:

Das Stadtarchiv hat zum Antrag, die Clara-Zetkin-Straße umzubenennen, eine Stellungnahme abgegeben.

Grundsätzlich vertritt das Stadtarchiv die Auffassung, dass nachträgliche Umbenennungen von Straßen nach jeweiligen (partei)politischen Opportunitäten als politische Symbolhandlungen zu werten und von wenigen, die Regel bestätigenden Ausnahmen abgesehen, historisch nicht begründbar sind. Umbenennungen erscheinen daher auch geschichtsdidaktisch verfehlt, weil ggf. statt einer kritischen Beschäftigung mit einer Benennung aus ihrer jeweiligen Zeit heraus gleichsam eine bloße Löschung erfolgt.

Zum Antrag, der Clara-Zetkin-Straße einen anderen Namen zu geben, weil sie eine „fanatische Kommunistin und zeitlebens eine erklärte Feindin der parlamentarischen Demokratie“ war, hat das Stadtarchiv wie folgt Stellung genommen:

Die Clara-Zetkin-Straße führte ursprünglich die Bezeichnung Hans-Schemm-Straße nach dem 1935 tödlich verunglückten Gauleiter des NSDAP-Gaus Oberfranken sowie Gründer und Führer des NS-Lehrerbundes. Nach der Eingemeindung Sillenbuchs erfolgte 1937 die Umbenennung in Böhmestraße nach dem Kampfflieger des Ersten Weltkriegs und Führer der Boelckestaffel Erwin Böhme (in Stuttgart gab es bereits eine Hans-Schemm-Straße in Weil im Dorf).

Im Zuge der von der Militärregierung angeordneten Umbenennung von Straßen mit Namen nationalsozialistischen oder militaristischen Charakters erhielt die Straße ihre heutige Bezeichnung. 1952 diskutierte der Gemeinderat Benennung nach Personen aus der kommunistischen Bewegung; daraufhin erfolgte die Rückbenennung der Thälmannstraße in Lange Straße (in der NS-Zeit Gregor-Schmid-Straße nach einem umgekommenen Nationalsozialisten); die Zetkinstraße wurde hierbei nicht thematisiert oder problematisiert.

In den folgenden Jahren gab es mehrere Vorstöße zu einer Umbenennung. Sie wurden sowohl im Bezirksbeirat von Sillenbuch (1963) wie auch von der Stadtverwaltung abgelehnt. Die Position brachte der damalige Erste Bürgermeister Dr. Hahn 1967 zum Ausdruck:

„Zur Begründung seiner Entscheidung führt der Bezirksbeirat u.a. an, dass Clara Zetkin (…) durch ihre Bildungskurse und Stiftungen für die Minderbemittelten der Gemeinde Sillenbuch erhebliches Ansehen genoß. Dies rechtfertigt allein schon aus lokaler Sicht die Benennung. Wenn man den Lebenslauf von Frau Clara Zetkin überdenkt, kann man ihr Leben nicht nur unter dem Gesichtspunkt beurteilen, dass sie in ihren letzten Lebensjahren kommunistische Alterspräsidentin des Deutschen Reichstags war. Frau Clara Zetkin ist 1857 geboren. Sie musste während der Zeit der Sozialistengesetzgebung als Sozialdemokratin in die Schweiz emigrieren. In der Zeit ihrer großen Aktivitäten war sie Vorkämpferin für das Frauenrecht, für den Schutz der arbeitenden Frauen und Kinder. Sie war in Stuttgart Chefredakteurin der Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“, und sie hat sich in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg als kluge und aktive Frau hohes Ansehen erworben. Später hat sich Frau Zetkin dann zur kommunistischen Partei bekannt.“

Das Stadtarchiv schließt sich im Grundsatz der seinerzeitigen Bewertung an. Nicht zu verkennen ist zwar, dass die Forschung zwischenzeitlich Person und Wirken Zetkins stärker problematisiert (vgl. Gutachten Historiker-Kommission Berlin; Tania Puschnerat, Clara Zetkin: Bürgerlichkeit und Marxismus. Eine Biographie, Essen 2003). So hat eine Historiker-Kommission unter Vorsitz von Heinrich August Winkler eine Rückbenennung der Zetkin-Straße in Berlin vorgeschlagen, die nach längeren Auseinandersetzungen in einem üblichen „Kuhhandel“ auch erfolgte. Zum maßgeblichen Argument wurde, dass die Zetkin-Straße direkt (vom ehemaligen Ostteil der Stadt) auf den Reichstag zuführte und eine Anhängerin der Räterepublik für eine dortige Benennung ungeeignet wäre.

Auf dieser Argumentationsebene, so Pressekommentare bis hin zur ZEIT, ließe sich polemisch auch nach dem Demokratieverständnis eben jener preußischen Kurfürstin Dorothea (1636-1689) oder nach der Unterbringung des Deutschen Bundestags in einem Gebäude fragen, dessen Grundstein 1884 der als sogenannter Kartätschenprinz bekannt gewordene Kaiser Wilhelm I. gelegt hatte, der 1849 die bürgerliche Revolution hatte niederschlagen lassen.

Sachlich und richtig ist es, die Stuttgarter Straßenbenennung primär aus lokalgeschichtlicher Perspektive zu betrachten:

Nach Jahren des Exils in der Schweiz und Paris, wo sie mit Ossip Zetkin gelebt, zwei Söhne geboren und den Partner bis zu dessen frühen Tod über zwei Jahre gepflegt hatte, kam Zetkin nach Stuttgart und übernahm im damals bedeutendsten sozialdemokratischen Verlag die Leitung des Frauenblatts „Die Arbeiterin“ bzw. des Nachfolgeblatts „Die Gleichheit“ (bis 1917). Stuttgart galt seit den Zeiten der Sozialistengesetze als vergleichweise liberal; deshalb waren Dietz, auch Blos nach Stuttgart gezogen; mehrere Gewerkschaftsorganisationen hatten ihren Sitz dorthin verlegt. In dieser Linie steht der einzige Sozialistenkongress auf deutschem Boden im Jahre 1907.

Seit Anfang 1892 wohnte Zetkin in der Rotebühlstraße in unmittelbarer Nachbarschaft mit Karl Kautsky, der 1891 das Erfurter Programm der SPD entworfen hatte, sowie Robert Bosch, der dort seine erste Werkstätte aufgebaut hatte. Dessen sozialpolitische Maßnahmen, beginnend 1894 mit der Einführung des Neunstundentags, trugen ihm das Image als „roter Bosch“ ein; sie können sicher nicht von Diskussionen im Stuttgarter Westen getrennt werden. Nach der Heirat mit dem 18 Jahre jüngeren Maler Georg Friedrich Zundel 1899 wohnte das Paar zunächst in der Blumenstraße und erbaute 1903 in der Kirchheimer Straße in Sillenbuch ein Haus, das zu einem Treffpunkt von Künstler- und politischen Freunden wurde.

Selbstverständlich muss diese lokale Perspektive in den Kontext gestellt werden. Hier erscheint, wie 1967 von EBM Dr. Hahn formuliert, eine Beurteilung Zetkins auf Grundlage der letzten Jahre unangemessen. Zetkin war über vier Jahrzehnte eine teilweise exilierte Sozialdemokratin und engagierte Frauenrechtlerin. Sie sprach auf SPD-Parteitagen, initiierte im Rahmen des internationalen Sozialistenkongresses 1907 die erste internationale Frauenkonferenz sowie den 8. März als internationalen Frauentag (1911), dessen 100jähriges Jubiläum auch in Stuttgart breit gefeiert worden ist.

Wie viele andere Sozialdemokraten wandte sie sich im Zuge der innerparteilichen Auseinandersetzungen über den Kurs der SPD im Ersten Weltkrieg der USPD (1917), dann der KPD (1919) zu – in einer offenen Situation eines überfälligen gesamtgesellschaftlichen Umbruchs. Dort spielte sie ab 1921 keine zentrale Rolle mehr. Gleichwohl entwickelte sie eine orthodoxe Haltung und ließ sich als Gallionsfigur in Anspruch nehmen bis hin zur Funktion einer Alterspräsidentin des Reichstags 1932, die die seit Jahren von Krankheit gezeichnete und fast erblindete Zetkin möglicherweise nicht selbst verfasst hat.

Winkler seinerseits hat in seiner Geschichte der Weimarer Republik (1993) darauf hingewiesen, dass Zetkin und ihre Richtung von Anfang an beiseite gedrängt worden seien. Sie brachte diese Distanz wiederholt deutlich zum Ausdruck. Auch Puschnerat, die Zetkin kritisch beurteilt, resümiert: „Weder in der Führung noch in der Gefolgschaft der stalinisierten KPD vermochte Zetkin nach 1928 Geltung und Praxis der marxistisch-leninistischen Bürgertugenden zu erkennen, geschweige denn in den Massen, die 1933 die Nationalsozialisten an die deutsche Regierung brachten.“ (390). Insoweit konnte eine Sillenbucher Bezirksbeirätin wohl nicht zu Unrecht formulieren „dass Zetkin sich inzwischen mit Sicherheit vom Kommunismus abgewendet hätte“.

Vor dem Hintergrund dieser historischen Einschätzung besteht nach Auffassung der Verwaltung keine Notwendigkeit, die Clara-Zetkin-Straße umzubenennen.






Dr. Wolfgang Schuster

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