Beantwortung und Stellungnahme zu Anfrage und Antrag
346/2016
Landeshauptstadt Stuttgart Stuttgart,
08/11/2017
Der Oberbürgermeister
GZ:
OB 7831-10.00
Beantwortung und Stellungnahme zu Anfrage und Antrag
Stadträtinnen/Stadträte - Fraktionen
Fraktionsgemeinschaft SÖS-LINKE-PluS
Datum
11/09/2016
Betreff
Offene Fragen zum S-21-Brandschutz- und zur Leistungsfähigkeit klären
Anlagen
Text der Anfragen/ der Anträge
Beantwortung/ Stellungnahme:
In der Sitzung des Ausschusses S 21 am 15.11.2016 wurden die vorgetragenen Fragen, welche an die Vorhabenträgerin Deutsche Bahn AG (DB AG) und das Eisenbahnbundesamt (EBA) gerichtet waren, weitgehend beantwortet.
Im Nachgang hat die Branddirektion die DB AG und das EBA gebeten, die Fragen nochmals schriftlich zu beantworten.
Von Seiten der DB AG haben wir Antworten zu den Fragen 1-3 und vom EBA zu den Fragen 1-8 erhalten. Im Folgenden erhalten Sie die uns übermittelten Antworten zur Kenntnis. Bei Frage 4 erhalten Sie ergänzt die Stellungnahme aus Sicht der Verwaltung.
§
Frage 1:
Die Entfluchtungssimulationen weisen Stand- bzw. Stauzeiten von 7 Minuten aus (Brandschutzkonzept BPK vom 22.04.2016 S. 82, 246) bei Gesamtentfluchtungszeiten von rund 14 Minuten. Dieser "signifikante Stau" (länger als 10 % der Gesamtentfluchtungszeit) ist nach dem vfdb-Leitfaden nicht zulässig (
http://www.vfdb.de/download/Leitfaden2013.pdf
S. 413, 415), er führt zu Panikverhalten wie bei dem Unglück bei der Loveparade in Duisburg mit Gefahr für Leib und Leben der Reisenden. Wie rechtfertigt der Vorhabenträger diese langen Standzeiten?
Antwort des EBA:
Der Nachweis einer gesicherten Evakuierung im Ereignisfall erfolgte mit in der Fachwelt anerkannten Brandschutzingenieurmethoden.
Antwort der DB AG:
7 Minuten ist die maximale Gesamtstauzeit, die sich z. B. aus den durch freies Gehen differenzierten Teilstandzeiten von 01:01 Min / 01:22 Min / 01:40 Min ergibt.
Durch die in der Simulationssoftware „Building Exodus“ vorgegebene maximale Dichte von 4 Personen/m² entsteht früher eine Staubildung als in anderen Berechnungsmethoden mit möglichen größeren Dichten (z. B. Verfahren nach Predtetschenski und Milinski). Insofern stellt sich hier früher ein Stau ein, was zu einer konservativeren Betrachtung bei der Ermittlung der Evakuierungszeit führt als höhere Personendichten. Durch die geplanten Maßnahmen bei der Evakuierung, wie z. B. brandortabhängige dynamische Fluchtwegleitung über raucharme Bereiche in sichere Bereiche, Sprachdurchsagen usw. wird der Entstehung einer Paniksituation entgegengewirkt.
Darüber hinaus ergeben sich weitere Sicherheitsreserven durch die in den Simulationen nicht berücksichtigte Möglichkeit einer Richtungsänderung zu anderen Rettungswegen und Verringerung der Stauzeiten auf dem Bahnsteig bei sukzessiver Entleerung der Züge anstelle von Evakuierungsstart auf den Bahnsteigen.
Der Leitfaden bezieht eine Dichte von 4P/m² als signifikant, im Sinne von besonders beachtenswert, ein. Die darin für diesen Fall vorgesehenen besonderen Maßnahmen (siehe oben) sind Bestandteil des BSK. Der vfdb-Leitfaden benennt in diesem Zusammenhang keine Unzulässigkeit, sondern führt aus, "dass sich Staubildungen grundsätzlich nicht vermeiden lassen" ... solange sich Bewegungsabläufe zu Beginn der Entfluchtung und in Übergangsbereichen ausbilden, sind diese unter bestimmten Bedingungen für einen bestimmten Zeitraum akzeptabel.
§
Frage 2:
Sind Doppelbelegungen an den Bahnsteigen vom Brandschutzkonzept abgedeckt? Welche Zahl liefert die EBA-Formel für Doppelbelegungen mit vier Zügen à sechs Doppelstockwaggons an einem Bahnsteig? Kann diese Personenzahl rechtzeitig evakuiert werden?
Antwort des EBA:
Die Ermittlung der zu evakuierenden Personen erfolgte im Einklang mit dem Leitfaden für den Brandschutz in Personenverkehrsanlagen der Eisenbahnen des Bundes. Diese für dieses Vorhaben durchgeführte Art der Ermittlung ergibt immer höhere und damit auf der sicheren Seite liegende Werte (siehe auch Bescheid zur 6. Planänderung im PFA 1.1 des Großprojektes Stuttgart 21 vom 23.04.2015; Az: 59160-591pä/005-2304#011)
Antwort der DB AG:
Es sind die zulässigen Sitz- und Stehplätze der jeweils längsten gleichzeitig am Bahnsteig haltenden Zugeinheit – gemäß der anzuwendenden Baurechtsgrundlage: EBA-Leitfaden – zu berücksichtigen, diese Vorgabe wurde zugrunde gelegt.
n (P1 + P2) + P3 = Pmax
§
Frage 3:
In den Tunneln soll ein brennender Zug in die Bahnsteighalle zurückrollen können. Kann demnach etwa im Fildertunnel immer nur ein Zug pro Tunnelröhre fahren? Im Stresstest befahren zwei und bei Verspätung drei Züge gleichzeitig eine Röhre des Fildertunnels. Wie stark reduziert sich die Leistungsfähigkeit, wenn nur ein Zug pro Röhre zugelassen wird und auch immer ein Bahnsteiggleis für zurückrollende Züge freigehalten wird?
Antwort des EBA:
Es ist zutreffend, dass es das Ziel ist, einen brennenden Zug möglichst nicht in einem Tunnel anhalten zu lassen. Das Flucht- und Rettungskonzept der Vorhabenträgerin ist vierstufig aufgebaut: Beginnend mit der Ereignisvermeidung (1. Stufe) folgen die Ereignisbegrenzung und -lenkung (2. Stufe), die Selbstrettung (3. Stufe) und schließlich die Fremdrettung (4. Stufe). Dieses Stufenkonzept ist in allen Planfeststellungsabschnitten mit Tunnelstrecken identisch. Hierzu gibt es entsprechend den eingeführten Vorschriften und Regularien betriebliche, bauliche und fahrzeugtechnische Vorgaben, um dieses Ziel zu erreichen.
Es bedeutet aber nicht, dass nicht auch für den Halt eines brennenden Zuges im Tunnel entsprechend den eingeführten Vorschriften und Regularien Maßnahmen für die Selbst- und Fremdrettung getroffen sind, die einen sicheren Betrieb der Eisenbahnanlage gewährleisten. Folgerichtig sind Kapazitätsengpässe aus Gründen des Brandschutzes nicht zu befürchten.
Antwort der DB AG:
Richtig ist, und das ist in allen Eisenbahntunneln in Deutschland und Europa so festgelegt, dass für Eisenbahntunnel ein vierstufiges Sicherheitskonzept besteht. Diese vier Stufen sind die
Ø
Prävention
Ø
Ausmaßminderung
Ø
Selbstrettung sowie die
Ø
Fremdrettung.
Das Ziel, einen brennenden Zug möglichst nicht in einem Tunnel anhalten zu lassen, ist richtigerweise das prioritäre Ziel und daher auch in den Planfeststellungsunterlagen deutlich hervorgehoben. Das Ziel wird auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit immer eingehalten, da Reisezüge einen hohen Brandschutz gemäß TSI und DIN/EN 45545 haben. Die im Fildertunnel zugelassenen Züge müssen die Betriebsklasse 3 gemäß der genannten Norm aufweisen. D. h. sie sind so konstruiert, dass sie auch bei einem Vollbrand an Bord noch 15 Minuten weiterfahren können. Zusätzlich sind diese Züge mit einer Notbremsüberbrückung ausgerüstet. Damit ist der Lokführer in der Lage den Zug auch dann aus dem Tunnel herausfahren zu können, wenn ein Reisender im Wagen die Notbremse getätigt hat.
Das Ziel, den brennenden Zug möglichst aus dem Tunnel ausfahren zu lassen, bedeutet aber nicht, dass nicht auch für einen möglichen Halt eines brennenden Zuges im Tunnel selbst Vorsorge getroffen wäre. Für diesen Fall gibt es umfangreiche technische und organisatorische Maßnahmen für die Selbst- und Fremdrettung.
§
(An-) Frage 4:
Die nach der S21-Ausschusssitzung vom 26.10.2016 fortbestehenden Widersprüche zur Leistungsfähigkeit sowie die entsprechenden Fragen des Fragenkatalogs werden einander gegenübergestellt und zwischen Kritikern und Bahn bzw. MVI abgestimmt. Die dabei erzielte Einigung über wesentliche Sachverhalte bzw. die verbleibenden Diskrepanzen werden anschließend dem S21-Ausschuss vorgelegt.
Von Seiten der DB AG und des EBA haben wir hierzu keine Aussage erhalten.
Stellungnahme aus Sicht der Verwaltung:
Durch die Ausschusssitzungen am 26.10.2016 und 15.11.2016 wurde es den Mitgliedern des Gemeinderates ermöglicht, sich ein eigenes Bild über die Themen „Leistungsfähigkeit“ und „Brandschutz“ zu machen. Es kamen Vertreter der unterschiedlichen Sichtweisen zu Wort. Die jeweiligen Ausführungen und die sich daraus ergebenden Diskrepanzen sind den ausführlichen Sitzungsprotokollen zu entnehmen.
Die von der Fraktionsgemeinschaft darüber hinaus angeregte Abstimmung unter den Experten und (erneute) Vorlage der verbleibenden Diskrepanzen erscheint wenig zielführend, da die unterschiedlichen Meinungen auch durch diese Vorgehensweise kaum beseitigt werden können.
§
Frage 5:
Müssen zum Nachweis der Machbarkeit Leistungsfähigkeit und Betriebssicherheit der Anlage gleichzeitig nachgewiesen werden oder können mit verschiedenen Betriebsprogrammen einmal die geforderte Leistung und ein anderes Mal der Brandschutz nachgewiesen werden?
Antwort des EBA:
Die Nachweise erfolgen nach den eingeführten Vorschriften und Regularien.
§
Frage 6:
Als Nachweis der Leistungsfähigkeit führt der Vorhabenträger inzwischen den sogenannten Stresstest von 2011 an. Dazu führt das EBA aus, der Vorhabenträger habe mit dem "Stresstest" "plausibel aufgezeigt, dass das beantragte Vorhaben für eine über den erwarteten Verkehrsbedarf hinausgehende Leistungssteigerung um dreißig Prozent taugt" (
PFA 1.3a Planfeststellungsbeschluss
S. 142). Der Stresstest setzt Doppelbelegungen voraus, die viel höhere Entfluchtungszahlen begründen. Dazu verlautbarte das EBA, dass "erst zur Inbetriebnahme" über den "Brandschutznachweis" und "betriebliche und technische Regelungen" entschieden würde (
St.N. 20.03.2015
). Kann dann, wenn ggf. Doppelbelegungen verboten werden müssen, die geforderte Leistungssteigerung noch garantiert werden (Begründung)?
Antwort des EBA:
Für den im Rahmen der Planfeststellung geltenden Maßstab wurde plausibel dargelegt, dass eine ausreichende Leistungsfähigkeit gegeben ist. Betriebliche Regelungen werden erst zur Inbetriebnahme festgelegt.
§
Frage 7:
Das EBA führte zur Zahl der zu evakuierenden Personen an (
Genehmigung 6. PÄ
vom 23.04.2015
): "Die Ermittlung erfolgte im Einklang mit dem Leitfaden für den Brandschutz in Personenverkehrsanlagen der Eisenbahnen des Bundes." Wozu der Brandschutzsachverständige Dr. Portz geurteilt hatte (PFA 1.1 6. PÄ EBA-Akte S. 533): "Die Personenzahl wurde nach der Formel für die größtmögliche Personenzahl nach EBA-Leitfaden ermittelt und ist somit sicher." Sind zur bestimmungsgemäßen Anwendung der EBA-Formel auch die zutreffenden Eingangsgrößen einzusetzen, d. h. die Züge, die tatsächlich geplant sind?
Antwort des EBA:
Die Ermittlung der Personenzahl erfolgt nach den Vorgaben des in der Fachwelt anerkannten „Leitfadens für den Brandschutz in Personenverkehrsanlagen der Eisenbahnen des Bundes“, des Eisenbahn-Bundesamtes.
§
Frage 8:
Inwieweit wurde das Brandschutzkonzept durch einen unabhängigen "Prüfer des EBA" geprüft (
Erläuterungen zum Leitfaden
für den Brandschutz S. 12), wenn zur 6. Planänderung der Gutachter Dr. Portz von dem Vorhabenträger bezahlt wurde (PFA 1.1 6. PÄ EBA-Akte S. 209)?
Antwort des EBA:
Einem öffentlichen Sachverständigen/Prüfer bringt der Rechtsverkehr ein hohes Maß an Vertrauen in seine Unabhängigkeit entgegen. Allein der Umstand, dass ein solcher Prüfer im Auftrag der Vorhabenträgerin eine Prüfung durchführt, vermag dieses Vertrauen nicht zu erschüttern. Dass er Gefälligkeitsprüfungen durchführt, ist mangels Anhaltspunkten nicht ersichtlich. Die Beauftragung des Prüfers erfolgte nach den Regularien der „Verwaltungsvorschrift über die Bauaufsicht im Ingenieurbau, Oberbau und Hochbau (VV BAU)“ des Eisenbahn-Bundesamtes.
Fritz Kuhn
zum Seitenanfang