Stellungnahme zum Antrag
122/2012
Landeshauptstadt Stuttgart Stuttgart,
06/29/2012
Der Oberbürgermeister
GZ:
OB 6400-00
Stellungnahme zum Antrag
Stadträtinnen/Stadträte - Fraktionen
Kotz Alexander (CDU), Rudolf Joachim (CDU), Wahl Dieter (CDU), Hill Philipp (CDU), Currle Fritz (CDU)
Datum
04/23/2012
Betreff
Erdrosseln überzogene bauliche Anforderungen an Versammlungsstätten mögliche Entwicklungen für Unternehmen und Vereine in unserer Stadt?
Anlagen
Text der Anfragen/ der Anträge
Beantwortung/ Stellungnahme:
Die Rechtsgrundlage für die Anforderungen an Versammlungsstätten ist die „Versammlungsstättenverordnung“, die vom Land Baden-Württemberg auf Grundlage der Muster-Versammlungsstättenverordnung erlassen wurde. Die Versammlungsstättenverordnungen der anderen Bundesländer sind weitgehend identisch. Die Versammlungsstättenverordnung schreibt Anforderungen vor u. a. an die Brandschutzqualität der tragenden Gebäudekonstruktion, die Breite von Rettungswegen, die Entrauchung und Entlüftung der Versammlungsräume, die Zahl der Toiletten und Pissoirs sowie an organisatorische Maßnahmen im Betrieb.
Hinsichtlich der erforderlichen Breite von Rettungswegen regelt die Versammlungsstättenverordnung seit 2004, dass die erforderliche Breite der Rettungswege ausschließlich anhand der Raumgrundflächen der Versammlungsräume zu ermitteln ist. Die Verordnungsbegründung führt hierzu aus: „Für alle Versammlungsräume mit fester Bestuhlung und ohne Bestuhlung ist §1 Abs. 2 Nr. 2 unter Berücksichtigung der nach Satz 2 nicht einzubeziehenden Flächen pauschal anzuwenden. Sowohl für Sitzplätze als auch für Stehplätze werden pauschal zwei Besucher je m² angesetzt. Die so pauschal ermittelte Besucherzahl ist maßgebend für das Rettungswegkonzept.“ Handelt es sich um ausschließlich betischt genutzte Räume, so ist ein Besucher je m² Raumgrundfläche anzusetzen. Für die anhand der Raumgrundfläche ermittelte Personenzahl sind nach § 7 Abs. 4 VStättVO mindestens 1,20 m Rettungswegebreite für jeweils 200 Besucher nachzuweisen. Eine Interpolation der ermittelten Werte ist hierbei nicht zulässig.
Die Zahl der tatsächlich zulässigen Besucher wird festgelegt durch die ebenfalls zu genehmigenden Bestuhlungspläne, für die es eine Vielzahl von Varianten geben kann. Die Nutzung von Versammlungsräumen ist nur auf Basis eines der genehmigten Bestuhlungspläne zulässig.
Im Gegensatz zu den Rettungswegebreiten wird die Zahl der Toiletten nach der Besucherzahl auf Grundlage des maximalen Bestuhlungsplanes ermittelt. Dies kann dazu führen, dass in Folge einer gewünschten zusätzlichen Variante mit einer größeren Zahl von Besucherplätzen weitere Toiletten eingebaut werden müssen. Bauherrn wird deshalb in der Bauberatung empfohlen, dass sie in ihrer Grundrissplanung mögliche Nutzungserweiterungen berücksichtigen. Analog hierzu wird vom Baurechtsamt Stuttgart bei der Ermittlung der Zahl der notwendigen PKW-Stellplätze vorgegangen.
Auf Grundlage der vorherigen Ausführungen werden die gestellten Fragen wie folgt beantwortet:
1. Die Verwaltung berichtet über solche und ähnlich gelagerte Fälle in den letzten Jahren in Stuttgart.
Bei der im Antrag genannten Glaubensgemeinschaft hängt die rechtliche Einordnung davon ab, ob die geplante Nutzung ausschließlich Gottesdiensten einer kirchlichen Einrichtung dient. Nach der Verordnungsbegründung zu § 1 Abs. 3 VStättVO „...fallen Räume, die für den Gottesdienst gewidmet sind, nach Nummer 1 nicht unter den Anwendungsbereich der Verordnung. Damit sind Kirchen, Moscheen und andere für den Gottesdienst förmlich gewidmete Räume von der VStättVO ausgenommen. Dies gilt jedoch nur für Veranstaltungen, die den Widmungszweck nicht verlassen.“ Handelt es sich also um einen dem Gottesdienst gewidmeten Raum, so ist die Versammlungsstättenverordnung nicht anzuwenden. Da es sich bei dieser Nutzung aber um einen Sonderbau nach § 38 LBO handelt, bei dem die Baurechtsbehörde die notwendigen Anforderungen anhand der konkreten Nutzung feststellen muss, wird die Versammlungsstättenverordnung als Maßstab für die Gefährdungsbeurteilung und die daraus abzuleitenden Anforderungen herangezogen. So wird zum Beispiel zwar die erforderliche Rettungswegebreite mit den Zahlenwerten der Versammlungsstättenverordnung ermittelt, als Grundlage kann jedoch anstelle der dort vorgegebenen Raumgröße die maximale Besucherzahl nach dem Bestuhlungsplan angesetzt werden, ohne dass eine Befreiung erforderlich ist. Zwingend erforderlich ist bei diesen Nutzungen in jedem Fall, dass mindestens zwei bauliche Rettungswege nachgewiesen werden, da aufgrund der Personenzahl eine Rettung über die Geräte der Feuerwehr im Brandfall nicht in einer ausreichenden Zeit erfolgen kann. Auf diese Weise wurden in den vergangenen Jahren bereits mehrere kirchliche Einrichtungen zugelassen. Die betroffene Glaubensgemeinschaft war dem Baurechtsamt allerdings bereits dahingehend bekannt, dass sie nicht nur Gottesdienste mit einer festen Bestuhlung durchführt, sondern auch andere Veranstaltungen. Damit sind zum einen die Vorschriften der Versammlungsstättenverordnung anzuwenden, zum anderen kann nicht wie bei einer „normalen“ Kirche von einer festen Bestuhlung ausgegangen werden. Im Rahmen der Sprechstunde wurde deshalb auf die erforderlichen Rettungswegebreiten auf Grundlage der Raumgrundfläche hingewiesen. Wenn sichergestellt ist, dass in dem neu vorgesehenen Raum tatsächlich lediglich Gottesdienste durchgeführt werden und eine Beschränkung auf einen Bestuhlungsplan plausibel möglich ist, ist eine Beschränkung der Personenzahl denkbar.
Unterliegt eine neu geplante und dauerhaft beantragte Nutzung jedoch der Versammlungsstättenverordnung, so wären Rettungswegebreiten, die anhand einer vom Antragsteller angegeben maximalen Besucherzahl ermittelt wurden und das anhand der Raumgrundfläche zu ermittelnde Maß unterschreiten, ein Verstoß gegen die Verordnung. Eine Befreiung ist jedoch nach § 56 LBO nur möglich, wenn diese im öffentlichen Interesse ist oder eine nicht beabsichtigte Härte vorliegt. Diese Voraussetzung ist im seltensten Fall gegeben, zumal es sich bei den hohen Anforderungen des Gesetzgebers ja um eine beabsichtigte Härte handelt, da die Rettungswegebemessung und –führung ein wesentlicher Bestandteil der Verordnung ist. Eine Befreiung ist dann denkbar, wenn beispielsweise bei einer nur vorübergehenden Nutzung ein Umbau unverhältnismäßig wäre oder der Denkmalschutz einem Eingriff in die Gebäudesubstanz entgegensteht und zugleich durch die Besonderheit des Eigentümers bzw. Betreibers die Gewährleistung besteht, dass die der Genehmigung zu Grunde liegenden Beschränkung der Besucherzahl auch befolgt wird. So war dies zum Beispiel bei der vorübergehenden Nutzung des Gebäudes Türlenstr. 2 durch das Staatstheater auf Grund der im Theater üblichen Beschränkung der Besucher auf die ausgegebenen Karten sichergestellt.
Die kulturelle Nutzung der Obergeschosse des Wilhelmspalais wurde ebenfalls mit einer Personenbeschränkung zugelassen. Nach den Vorgaben der Versammlungsstättenverordnung wären Rettungswege mit einer Breite von insgesamt 6 m erforderlich. Tatsächlich vorhanden sind jedoch nur zwei auch im Brandfall geeignete Rettungswege durch die jeweils etwa 1 m breiten Treppenräume. Eine Befreiung auf Grundlage der denkmalgeschützten Gebäudesubstanz war möglich, da sich das Gebäude im städtischen Eigentum befindet und so die Einhaltung der zugelassenen max. 200 Besucher in den Obergeschossen gewährleistet ist. Das Baurechtsamt konnte hier - anders als bei einem privaten Eigentümer, bei dem zudem ein Wechsel nie ausgeschlossen werden kann - sicher davon ausgehen, dass die Stadt als Eigentümerin ihrer Verpflichtung nachgehen wird.
Liegen also die gesetzlichen Voraussetzungen vor, ist in Einzelfällen eine Abweichung von den eigentlich notwendigen Rettungswegebreiten möglich.
Autohäuser haben sich in den letzten Jahren zu beliebten Veranstaltungsorten entwickelt. Die notwendige Ermittlung der Rettungswegebreiten kommt aufgrund der großen Raumflächen zu Ergebnissen, die angesichts der von den Betreibern vorgesehenen Besucherzahlen unangemessen wirken können. Andererseits gibt es beim Neubau eines Autohauses keine baulichen Zwänge, die die Herstellung der vorgeschriebenen Breiten ausschließen. Die gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen für eine Befreiung liegen im Regelfall nicht vor. Bauherren wird vom Baurechtsamt deshalb schon bei Vorgesprächen regelmäßig geraten, die mögliche Versammlungsnutzung gleich bei der Gebäudeplanung und Bauantragstellung zu berücksichtigen, um bei der späteren Nutzung flexibel sein zu können. Denkbar ist auch, die für die Besucher von Veranstaltungen zugängliche Fläche durch bauliche Vorkehrungen zu begrenzen, um die notwendige Rettungswegebreite den baulichen Gegebenheiten anzupassen.
2. Wie wird diese Problematik in anderen deutschen Großstädten gehandhabt?
Die baden-württembergische Versammlungsstättenverordnung wurde auf Grundlage der von der Bundesbauministerkonferenz beschlossenen Muster-Versammlungsstättenverordnung erlassen. Die in Stuttgart gestellten Anforderungen entsprechen deshalb denen in anderen Städten. Eine vom Wortlaut der Verordnung abweichende Handhabung, bei der durch eine Personenbeschränkung Versammlungsräume mit geringeren Ausgangsbreiten zugelassen werden, wird vom zuständigen Ministerium für Verkehr und Infrastruktur abgelehnt.
3. Kann ein Gebäudebesitzer oder Nutzer im Rahmen einer Selbstverpflichtung die maximale Personenzahl für Veranstaltungsräume begrenzen? Wenn ja, auf welchem Weg muss dies geschehen?
Wie schon beschrieben, sieht die Versammlungsstättenverordnung ausdrücklich nicht vor, dass für die Anforderungen an die Rettungswege das Nutzungskonzept zu Grund zu legen ist, sondern ausschließlich die Raumgrundfläche. Abweichend hiervon ist im Einzelfall bei bestehenden, insbesondere denkmalgeschützten Gebäuden und bei interimistischen Nutzungen denkbar, dass auf Grundlage einer Betriebsbeschreibung ein Versammlungsraum zugelassen wird, dessen Rettungswegebreiten im Verhältnis zur Raumgröße zu gering sind. Das Betriebskonzept muss plausibel darstellen, wie bei Veranstaltungen die Einhaltung der maximalen Besucherzahl durch technische oder organisatorische Vorkehrungen sicher gestellt wird. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Abweichung oder in seltenen Fällen für eine Befreiung nach § 56 LBO müssen gegeben sein.
Grundlage der Genehmigung ist in diesen Fällen neben dem Betriebskonzept ein verbindlicher Bestuhlungsplan, der ebenfalls die zu Grunde gelegte maximale Besucherzahl darstellt.
In der Baugenehmigung wird zur Klarstellung zusätzlich die Zahl der maximalen Besucher festgeschrieben.
4. Wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Verwaltung vor rechtlichen Konsequenzen geschützt werden, wenn bei einem Unglück doch mehr Besucher vor Ort waren als zugelassen?
Wie unter Ziffer 1 beschrieben, liegen die Voraussetzungen für eine Befreiung von den sicherheitstechnischen Anforderungen in den seltensten Fällen vor.
Würde diese ohne Rechtsgrundlage trotzdem erteilt, wäre der Sachbearbeiter im Schadensfall haftungs- und strafrechtlich verantwortlich. Entsprechende Verfahren gab es z.B. in Frankfurt a.M. (wegen unzureichender Rettungswege aus einer Diskothek), in Düsseldorf (wegen der nicht ausreichenden Überprüfung der Einhaltung einer Auflage aus der Baugenehmigung), aktuell in Duisburg (wegen der möglicherweise unzureichenden Bemessung der Rettungswege).
Eine völlige Übertragung der Verantwortung auf einen Gebäudeeigentümer oder Betreiber ist nicht möglich. Die Baurechtsbehörde kann sich nicht von der Verantwortung entbinden lassen, da sie nach dem Gesetz für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften zuständig ist. Käme es bei einem Ereignis zu Personenschäden, die aus der Nichteinhaltung der Personenbeschränkung resultieren, wäre dies der Beleg dafür, dass die Befreiung von den gesetzlich erforderlichen Rettungswegebreiten auch inhaltlich fehlerhaft war. Zusammen mit der Tatsache, dass es auch formal im Regelfall keine Rechtsgrundlage für eine Befreiung gibt, ist deshalb eine Haftung der betroffenen Mitarbeiter nicht ausschließbar.
Handelt es sich um ein städtisches Gebäude, bei dem aus den unter Ziffer 1 genannten Gründen eine Abweichung oder Befreiung erteilt wurde, so liegt die anschließende Verantwortung im Schadensfalls nicht nur bei der Stadt als Baurechtsbehörde sondern auch als Eigentümerin. Die Stadt muss in diesen Fällen aus ihrer Position als Eigentümerin sicherstellen, dass die einer Genehmigung zu Grunde gelegte Personenbeschränkung eingehalten wird. Ein Sachbearbeiter des Baurechtsamts kann hier bei seiner Beurteilung davon ausgehen, dass eine Überschreitung der zulässigen Besucherzahl nicht erfolgen wird.
Dr. Wolfgang Schuster
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