Protokoll:
Sozial- und Gesundheitsausschuss
des Gemeinderats der Landeshauptstadt Stuttgart
Niederschrift Nr.
TOP:
52
7
Verhandlung
Drucksache:
GZ:
Sitzungstermin:
24.04.2023
Sitzungsart:
öffentlich
Vorsitz:
BMin Dr. Sußmann
Berichterstattung:
Herr Prof. Dr. Müller (Region der Lebensretter e. V.),
Herr Dr. Belge (Branddir)
Protokollführung:
Herr Krasovskij
as
Betreff:
"App-basierte Alarmierungssoftware - Startschuss im Rahmen der HEROES-Studie geben!"
- Antrag Nr. 71/2023 vom 14.03.2023 (90/GRÜNE)
- mündlicher Bericht -
Der im Betreff genannte Antrag ist dem Originalprotokoll sowie dem Protokollexemplar für die Hauptaktei beigefügt.
Dieser Tagesordnungspunkt wird an den Sitzungsbeginn vorgezogen.
Nach einer kurzen Einleitung durch BMin
Dr. Sußmann
führt Herr
Prof. Dr. Müller
("Region der Lebensretter e. V."), der per Videokonferenz aus Freiburg in die Sitzung zugeschaltet ist, die Ratsmitglieder in das Thema ein. Er macht darauf aufmerksam, dass der Herz-Kreislauf-Stillstand eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland sei. Laut dem Deutschen Reanimationsregister käme es jährlich zu ca. 54.000 Fällen außerhalb einer Klinik. Rein statistisch versterben bislang 89,5 % der Betroffenen trotz des Einsatzes von Rettungsdienst und Notarzt.
Herr Prof. Dr. Müller betont, dass es bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand auf Minuten ankomme. Um den Betroffenen zu retten, müsse unverzüglich mit einer Herzdruckmassage, der Beatmung und ggf. einer Defibrillation begonnen werden. Andernfalls komme es bereits nach ca. 3 bis 5 Minuten zu irreversiblen Hirnschäden. In vielen Fällen könne der alarmierte Rettungsdient den Betroffenen aber nicht mehr entsprechend helfen. Denn bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes am Einsatzort vergingen in den deutschen Metropolen im Median 7 bis 9 Minuten. Häufig seien die entscheidenden ersten
3 Minuten bereits verstrichen, ehe der Rettungsdienst überhaupt losfahre, während die sich am Unfallort befindlichen Passanten den Betroffenen in der Ausnahmesituation häufig nicht adäquat helfen könnten.
Um diesem Problem zu begegnen, habe der Verein "Region der Lebensretter" im Jahr 2017 das Pilotprojekt der App-basierten Alarmierungssoftware gestartet. Ehrenamtliche, die als Ersthelfer oder Ersthelferin geschult sind, könnten sich in der App registrieren lassen. Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand würden dann die sich in der Nähe des Standortes befindlichen Ersthelfer (häufig bis zu 4 Personen) sofort alarmiert und könnten sich an den Unfallort begeben, um unverzüglich die Wiederbelebungsmaßnahmen einzuleiten. Herr Prof. Dr. Müller berichtet über Erfahrungen aus der Praxis, wonach die Ersthelfer und Ersthelferinnen im Median nach weniger als 4 Minuten am Unfallort einträfen und damit deutlich schneller seien als der alarmierte Rettungsdienst. Dank der App-basierten Alarmierungssoftware könne die Überlebensrate bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand verdoppelt bis vervierfacht werden. Diese These solle in einer wissenschaftlichen Studie (HEROES-Studie) bestätigt werden.
Um als Ersthelfer oder Ersthelferin in der App registriert werden zu können, müssten die Freiwilligen eine Ausbildung zum/zur Sanitätshelfer*in oder Notfallsanitäter*in bzw. eine andere medizinische Ausbildung vorweisen. Ein reiner Erste-Hilfe-Kurs reiche derweil nicht aus. In Freiburg, wo mit dem Projekt einst begonnen wurde, seien mittlerweile 1.600 Personen als Ersthelfer oder Ersthelferin registriert. In 50 % der Fälle sei es in der Region Freiburg mit Breisgau und Hochschwarzwald gelungen, bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand einen Ersthelfer zu finden. Herr Prof. Dr. Müller zeigt sich davon überzeugt, dass es bei einer Implementierung des Systems auch in der Stadt Stuttgart gelingen werde, ausreichend Ersthelfer oder Ersthelferinnen zu rekrutieren, bspw. über die Kliniken und Krankenhäuser, die Berufsfeuerwehr oder andere Hilfsorganisationen. Zwecks einer möglichen Implementierung des App-basierten Alarmierungssystems in der Integrierten Leitstelle (ITS) in Stuttgart habe man bereits Gespräche mit der Feuerwehr und dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) geführt.
Abschließend macht der Referent darauf aufmerksam, dass das System nicht Teil des Rettungsdienstes sei und es damit nicht über den Bereichsausschuss finanziert werden könne. Auch sei es keine SGB 5-Leistung, für die die Krankenkassen als Kostenträger aufkämen. Deshalb sei man bislang auf Spenden und die finanzielle Unterstützung der Städte und Kommunen angewiesen gewesen, die das System implementieren wollten. Bundesweit hätten sich aktuell ca. 50 % der Gebietskörperschaften dem Projekt angeschlossen.
Anschließend nimmt Herr
Dr. Belge
(Branddir) Stellung zu einer möglichen Implementierung des Systems in der ITS. Er erklärt, dass zur Information der Ersthelfer und Ersthelferinnen eine Schnittstelle zwischen dem Einsatzleitsystem und der App geschaffen werden müsse. Hier habe man bereits entsprechende Angebote zur Umsetzung eingeholt. Zudem sehe der Amtsleiter eine ständige Aktualisierung der Daten, u. a. zu Standorten von öffentlichen Defibrillatoren in der Stadt, als unentbehrlich an. Um das System möglichst nachhaltig und effizient zu implementieren, seien im Hinblick auf die technische und organisatorische Umsetzung weitere Überlegungen notwendig. Auf die für das Projekt erforderlichen Finanzmittel eingehend, erklärt Herr Dr. Belge, dass die im Zuge der Haushaltsplanberatungen 2022/2023 bewilligten 50.000 EUR nicht auskömmlich seien und voraussichtlich nahezu die doppelte Summe benötigt werde, um den Einstieg in das System zu realisieren sowie die laufenden Kosten für Support und Datenpflege zu decken. Daher sollte sich der Gemeinderat bei einer Entscheidung für das Projekt mit der Frage der Finanzierung im Rahmen der in diesem Jahr anstehenden Haushaltsplanberatungen befassen.
Zum Thema der finanziellen Aufwendungen verdeutlicht Herr
Prof. Dr. Müller
, dass im Zuge der Systemimplementierung im ersten Jahr Kosten in Höhe von ca. 58.895 EUR anfallen würden. In den Folgejahren sei mit Kosten von ca. 27.955 EUR jährlich zu rechnen. Die Kosten für das erste Jahr würden nach Projektstart aber nicht sofort anfallen, sondern nach einer achtmonatigen Beobachtungsphase im Rahmen der HEROES-Studie.
Ferner wäre es ratsam, über die Bewilligung von ca. 35.000 EUR für die Ausstattung der Ersthelfer und Ersthelferinnen mit einer Erstausrüstung nachzudenken. Falls dies nicht möglich sei, könne versucht werden, diese Mittel nach Projektstart durch Spenden zu akquirieren.
Im Verlauf der nachfolgenden Aussprache plädieren die
Ratsmitglieder
fraktionsübergreifend für eine Implementierung der App-basierten Alarmierungssoftware in der Stadt Stuttgart.
StR
Dr. Rastetter
(90/GRÜNE) spricht sich mehrfach für einen unverzüglichen Projektstart mit Teilnahme der Stadt Stuttgart an der HEROES-Studie und die Bereitstellung der weiteren notwendigen Mittel im Zuge der Haushaltsplanberatungen aus. Er äußert Bedauern darüber, dass die Krankenkassen bislang keine Bereitschaft zur Übernahme der Projektkosten gezeigt hätten, und regt auch an, evtl. auf das Land zwecks einer Förderung zuzugehen. Ähnlich äußern sich im Folgenden auch die StRinnen
Dr. Hackl
(SPD) und
Schumann
(PULS).
Herr
Dr. Belge
zieht in Erwägung, die Kostenfrage erneut im Rahmen des Bereichsausschusses vorzubringen und zwecks einer möglichen Förderung ggf. Kontakt mit dem Regierungspräsidium und dem Innenministerium des Landes aufzunehmen.
StR
Dr. Rastetter
erinnert in diesem Zusammenhang an die im Rahmen der Haushaltsplanberatungen 2022/2023 bewilligten 100.000 EUR zur Beschaffung von Defibrillatoren für Sportstätten und stellt die Frage, ob ein Teil dieser Mittel ggf. für einen Projektstart der App-basierten Alarmierungssoftware umgeschichtet werden könnte. Herr
Dr. Belge
sagt nach einer Nachfrage zu, im Nachgang an die Sitzung beim Amt für Sport und Bewegung (AfSB) in Erfahrung zu bringen, wie viele Mittel hier bereits abgeflossen seien bzw. wie viele Defibrillatoren für Sportstätten bereits angeschafft worden seien und ob ggf. eine Umwidmung der Mittel möglich wäre.
StR
Dr. Rastetter
betont im Weiteren, dass öffentliche Defibrillatoren klar ersichtlich angebracht und rund um die Uhr zugänglich sein sollten. Der im Stuttgarter Rathaus und die in anderen Verwaltungsgebäuden befindlichen Defibrillatoren sollten daher im Eingangsbereich platziert werden. Auch macht der Stadtrat darauf aufmerksam, dass sich der Defibrillator im Bürgerbüro West in der Teeküche befinde und damit nicht rund um die Uhr zugänglich sei.
Den durch StR Dr. Rastetter geäußerten Anregungen zum Thema öffentliche Defibrillatoren schließt sich auch StRin
Bulle-Schmid
(CDU) an. Sie bittet in diesem Zusammenhang um eine Übersicht der Standorte von öffentlich zugänglichen Defibrillatoren in Stuttgart (in welchem Abstand gibt es jeweils ein Gerät) und möchte wissen, ob und ggf. in welchen Stadtbezirken hier ein Ausbaubedarf gesehen werde. Herr
Dr. Belge
erklärt darauf eingehend, dass laut einer Überprüfung von öffentlichen Datenbanken es zum Zeitpunkt vom 07.06.2022 in Stuttgart 373 öffentliche Defibrillatoren gegeben habe. Im Rahmen der Implementierung der App-basierten Alarmierungssoftware müssten die Standorte erneut erfasst und in das System eingepflegt werden.
StRin
Bulle-Schmid
macht im Folgenden darauf aufmerksam, dass viele Menschen nicht wüssten, wie sie sich in einer Notfallsituation, wie einem Herz-Kreislauf-Stillstand, richtig verhalten sollten. Deshalb müsse die Bevölkerung für das Thema und die Wichtigkeit von regelmäßigen Erste-Hilfe-Schulungen sensibilisiert werden. Auch brauche es laut der Stadträtin mehr Erste-Hilfe-Kurse und Möglichkeiten, das richtige Verhalten zu erlernen.
Nach einer Nachfrage der Stadträtin führt Herr
Prof. Dr. Müller
aus, dass er nicht genau sagen könne, wie viele Leben durch den Einsatz der App-basierten Alarmierungssoftware bisher gerettet werden konnten, da im System aus Datenschutzgründen keine Patientendaten erfasst würden. Er berichtet im Folgenden aber über eine junge Mutter, die nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand dank des Einsatzes der Ersthelfer gerettet werden konnte.
Im gleichen Kontext erklärt Herr Prof. Dr. Müller gegenüber StRin Dr. Hackl, dass in der Nähe befindliche Passanten im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstands unverzüglich die Notrufnummer 112 wählen sollten. Der/die Disponent*in in der Einsatzleitstelle führe eine strukturierte Notrufabfrage durch und könne bei Bedarf auch bis zum Eintreffen der Ersthelfer*innen oder des Rettungsdienstes bei der Durchführung der Wiederbelebungsmaßnahmen anleiten. Der Referent betont gegenüber dem Gremium erneut, dass es in Stuttgart gelingen werde, eine genügende Anzahl an freiwilligen Ersthelfern und Ersthelferinnen zu rekrutieren, und somit die Wahrscheinlichkeit hoch sein werde, dass sich Personen, die helfen könnten, im Falle eines Notfalls tatsächlich in der Nähe befänden.
Nach dem klaren Votum des Gremiums für die Implementierung der App-basierten Alarmierungssoftware in der Stadt Stuttgart und für die Teilnahme der Landeshauptstadt an der geplanten HEROES-Studie macht BMin
Dr. Sußmann
im Folgenden einen Vorschlag zur weiteren Vorgehensweise. Die Vorsitzende bittet Herrn Dr. Belge und Herrn Prof. Dr. Müller darum, weitere vertiefende Gespräche zu führen, um zu eruieren, ob und wie ein Projektstart mit den vorhandenen Mitteln gelingen könnte und welche organisatorischen und technischen Maßnahmen für einen effizienten und nachhaltigen Betrieb des Systems notwendig seien bzw. mit welchen konkreten Kosten man hier rechnen müsse. BMin Dr. Sußmann und Herr
Dr. Belge
kündigen in diesem Zusammenhang mit Blick auf die anstehenden Etatberatungen eine haushaltsrelevante Mitteilungsvorlage an.
Abschließend werden weitere wenige Verständnisfragen der
Ratsmitglieder
durch Herrn
Prof. Dr. Müller
und Herrn
Dr. Belge
beantwortet.
Danach stellt BMin
Dr. Sußmann
fest:
Der Sozial- und Gesundheitsausschuss hat vom Bericht
Kenntnis genommen
. Der Antrag ist damit erledigt.
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