Protokoll: Gemeinderat der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
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VerhandlungDrucksache:
GZ:
Sitzungstermin: 26.07.2017
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: OB Kuhn
Berichterstattung:-
Protokollführung: Frau Sabbagh
Betreff: Gemeinsamer Antrag Nr. 205/2017 "Eine lebenswerte Stadt für alle!" vom 06.07.2017 (90/GRÜNE, SPD, SÖS-LINKE-PluS, STd)

Vorgang: Ausschuss für Umwelt und Technik vom 25.07.2017, öffentlich, Nr. 372

Ergebnis: Der UTA fasst den in Antrag Nr. 205/2017 dargelegten Ziel-beschluss mit 9 Ja- und 8 Nein-Stimmen mehrheitlich.


Vorab schlägt OB Kuhn vor, dass die Fraktionen, da die Positionen aus dem UTA bereits bekannt seien, die Stellungnahmen im "fröhlichen Wechsel" vortragen.

Zunächst begründet StR Winter (90/GRÜNE) den gemeinsamen Antrag. Dabei weist er ergänzend darauf hin, dass die in den Zonen innerhalb des City-Rings wegfallenden oberirdischen Parkplätze gerade einmal 1 % des gesamten Parkplatzangebots in Stuttgart abdeckten. Für mobilitätseingeschränkte Menschen müssten natürlich weiterhin ebenerdige Parkplätze vorgehalten werden. Wie sich z. B. in der Lautenschlagerstraße gezeigt habe, entstehe dort, wo man Parkplätze wegnehme, oft Gastronomie. In der Tübinger Straße profitierten sowohl die, die dort wohnten oder arbeiteten, als auch die Geschäfte von der Mischverkehrsfläche. Wo man gerne flaniere, kaufe man auch gerne ein. Gerade angesichts der Konkurrenz durch das Internet müssten die Räume um den Handel herum attraktiver gestaltet werden. Damit verringere man auch die Umwelt- und Lärmbelastung. Und seinem Eindruck nach seien es die Fußgänger auch leid, in Unterführungen abzutauchen, während oben der Verkehr auf Schnellstraßen rolle.

StR Rudolf (CDU) kritisiert, dass Autos, die in Stuttgart gebaut würden, aus der Stadt gedrängt werden sollten. Die Fußgängerfrequenz lasse in Stuttgart nach und damit natürlich auch die Handelsfrequenz. Der Gemeinderat sollte aber darauf achten, was die Handelsverbände sagten, und ihnen nicht unterstellen, dass sie nicht rechnen könnten, wenn sie Einbußen von 10 Mio. €/Tag kalkulierten. Im UTA habe sich eine denkbar knappe Mehrheit dafür ausgesprochen, dass eine Stadt lebenswert sei, wenn sie autofrei sei. Im Übrigen bezweifle er, dass das Stadtbild mit ca. 20 oder 25 Schranken schöner werde, ganz zu schweigen davon, dass Schranken eine Bevormundung bedeuteten, während man doch eine offene Stadt sein wolle.

Zu den von StR Winter genannten Beispielen erklärt er, eine Stadt lebe nicht allein von der Gastronomie. Im neuen Dorotheenquartier könne man sehen, dass Gastronomie ohne Handel nicht funktionieren würde. Er hätte sich gewünscht, dass der Gemeinderat gemeinsam darüber nachdenke, wann eine Stadt - bezüglich Parken und Autos - lebenswert sei, damit dies von einer breiteren Mehrheit getragen werden könne. Er appelliert an den Gemeinderat, die Abstimmung zu verschieben und nochmals gemeinsam nachzudenken.

StR Pfeifer (SPD) bedankt sich bei der Verwaltung für die Beantwortung des Antrags, aus der hervorgehe, dass sie dessen Zielsetzung verstanden habe. Es gehe doch nicht um eine Schranke, Ampel oder einen Parkplatz mehr oder weniger, sondern um die Frage, wie man die Innenstadt angesichts der Konkurrenz mit vielen anderen Städten für die Zukunft fit machen könne. Die schwierigen Rahmenbedingungen für den Handel seien bekannt, ebenso die Themen Baustellen und Feinstaub. Und in den letzten Jahren hätten alle deutschen Großstädte an Frequenz verloren, wobei man Frequenz nicht mit Umsatz gleichsetzen dürfe. In Umfragen zwei verschiedener Agenturen seien einmal 7.500 Menschen in der Königstraße gezählt worden, was Platz 17 in Deutschland entspreche, und ein paar Wochen vorher 17.000 Menschen, was Platz 1 bedeute. Stuttgart habe in den letzten 15 Jahren in Bezug auf die Frequenz immer im Spitzenfeld der großen deutschen Städte gelegen.

In der Szene gebe es keinen Zweifel, dass für eine attraktive Innenstadt ein spannender, abwechslungsreicher Handel mit einem sehr breiten Angebot lebenswichtig sei. Die Rahmenbedingungen - öffentliche Infrastruktur, Gastronomieangebot, Kultur, Erreichbarkeit - müssten stimmen. Wer die Attraktivität und die wirtschaftliche Prosperität von 1 % der Stellplätze abhängig mache, unterschätze die Leistungsfähigkeit der Stuttgarter Innenstadt und des Handels insgesamt. Man brauche ein gutes Parkierungsangebot, bei dem aber nicht 150 Plätze in der gesamten City verstreut seien und vor allem Parksuchverkehr bewirkten. Ein dynamisches Parkleitsystem solle hier Abhilfe schaffen. Er betont ausdrücklich, dass der Antrag kein Feldzug gegen die Autos sei, denn die brauche man und für die halte man auch 12.000 Parkplätze vor. Vielmehr gehe es um Aufenthaltsqualität und Atmosphäre als Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit, da man über Preise und Marken keine spezielle Kundenbindung mehr erreiche. Für eine lebendige und lebenswerte Innenstadt brauche man ein Gesamtpaket, das man gerne diskutieren wolle.

StR Zeeb (FW) erinnert an das Mittelalter, seit dem die Städte historisch gewachsene Handelsplätze und Dienstleistungszentren gewesen seien. Es sei gehandelt und nicht flaniert worden. Seine Fraktion wolle die wenigen offenen Parkplätze hinter der Markthalle, in der Eberhardstraße und an anderen citynahen Stellen erhalten wissen, auch wenn sie nur 1 bis 2 % ausmachten. Zur Lebensqualität gehöre auch, attraktive Einkaufsziele wie den Wochenmarkt oder die Markthalle mal kurz mit dem Auto anfahren zu können, und nicht, schwer bepackt mehrmals in die Tiefgarage zu gehen und Einkäufe abzuladen. Die Stuttgarter City lebe vom Umsatz, auch von auswärtigen Gästen, und diese wolle man nicht auf die Parkplätze der Einkaufszentren auf der grünen Wiese treiben. Flanieren sei nur dann schön, wenn der Einzelhandel lebendig bleibe. Seine Fraktion lehne den Antrag entschieden ab, denn er sei politisch und nicht sinnvoll und gängele die Bürger.

Dagegen sieht StR Ozasek (SÖS-LINKE-PluS) in diesem Antrag das Fundament für die bedeutendste Stadtentwicklungsoffensive seit der Umwandlung der Königstraße in eine Fußgängerzone vor über 40 Jahren. In seiner Antragsbegründung weist er u. a. auf die wichtige Funktion des Bündnisses "Stuttgart laufd nai" hin, das viel positive Energie freigesetzt habe. Stuttgart ersticke am Autoverkehr. Der öffentliche Raum dürfe nicht länger von der Automobilität weniger beherrscht werden, sondern müsse der umweltfreundlichen Fortbewegung der vielen offenstehen. Die Mehrzahl europäischer Großstädte setze auf mehr urbane Qualität und finde zurück zur integrierten durchgrünten europäischen Stadt. Der öffentliche Raum in der City könne gestalterisch und funktional aufgewertet werden, auch und gerade für Familien mit Kindern. Für Radfahren und das bisher völlig vernachlässigte Zufußgehen werde Raum transformiert. Die Einrichtung als Fußgängerzone habe der Königstraße schon vor vielen Jahren zur drittbedeutendsten Flaniermeile der Republik und der 1A-Lage für den Handel verholfen. In allen Städten, die diese Transformationsprozesse anpackten, könne man die vielen positiven und identitätsstiftenden Effekte wahrnehmen. Seine Fraktionsgemeinschaft verbinde mit dem Zielbeschluss die Erwartung, dass die Verwaltung nun zügig den Rückbau der Schillerstraße plane, um einen urbanen Platz zwischen Bahnhof und Stadtzentrum zu schaffen und den zerschnittenen Schlossgarten als grünes Band wiederherzustellen.

Ohne technische Sperren und mehr Kontrollen werde das unregulierte Befahren der City nicht zu unterbinden sein. Der schwere Lieferverkehr solle sukzessive ersetzt werden durch kleinteilige Distribution von Waren, ausgehend von Logistik-Hubs. So schütze man nachhaltig die hochwertigen Bodenbeläge, die Stadtmöbel, die Bäume und die Passanten.

Die Verwaltung müsse nun einen Finanzierungs- und Umsetzungsplan erarbeiten und ein Maßnahmenpaket für den Doppelhaushalt vorschlagen. Bei diesem Prozess müssten die Fachverwaltung und die Bürgerschaft, insbesondere das Bündnis "Stuttgart laufd nai", Aufbruch Stuttgart, der Bezirksbeirat Mitte sowie Kinder und Jugendliche beteiligt werden.

Für StR Brett (AfD) sind die Begründung des Antrags und die Ergänzungen nur schwer rational nachzuvollziehen. Wenn der Rückbau von 150 Parkplätzen nur ca. 1 % der Parkplätze im Innenstadtgebiet ausmache, gelte dies auch umgekehrt für den Bau zusätzlicher 150 Parkplätze. Und um den Parksuchverkehr einzudämmen, sei es am besten, mehr Parkplätze und Parkhäuser zu bauen. Für seine Fraktion müsse das Ziel sein, dass jeder mit dem Verkehrsmittel seiner Wahl in die Stadt fahre und seine Erledigungen mache, und nicht, dass man bevormundet werde. Frau Fuchs vom CIS habe ausdrücklich gesagt, dass sie die Parkplätze wolle. Er sieht in der Entscheidung im UTA eine "zufällige" Mehrheit und erklärt, seine Fraktion werde den Zielbeschluss ablehnen.

StR Dr. Schertlen (STd) führt aus, dass die Innenstadt schon deshalb massiv an Attraktivität verliere, weil der Lieferverkehr entgegen der Regelungen nahezu rund um die Uhr aktiv sei. Mit dem Antrag verbinde er außerdem die Hoffnung, dass endlich ein vernünftiges Konzept für die Durchwegung mit Radwegen erstellt und umgesetzt werde.
Mit Blick auf die Ziffern 1 und 3 des Antrags merkt er an, lediglich der Cruise- und Parksuchverkehr fänden nicht mehr statt. Damit werte man die Lebens- und Aufenthaltsqualität in der Innenstadt massiv auf. Auch er weist auf die Schreckensszenarien hin, die bei der Einrichtung der Königstraße als Fußgängerzone in den 60er-Jahren gezeichnet worden seien. Richte man den Blick nach vorne ins Jahr 2025, werde man sich mit einem autonomen Fahrzeug in die Innenstadt fahren lassen und das vollautomatisierte Parken nutzen.

Nach Ansicht von StR Conz (FDP) sollte man die psychologische Wirkung des Rückbaus oberirdischer Parkplätze nicht außer Acht lassen. Der Einzelhandel sei auch auf Kunden aus dem Umland, das oft nicht perfekt an den ÖPNV angebunden sei, angewiesen. Hinzu komme, dass der Lieferverkehr nicht zeitlich eingeschränkt werden, sondern in wirtschaftlich notwendigem Umfang gewährleistet sein sollte. In der Tübinger Straße zeige sich mit der höchsten Falschparkerquote in Stuttgart deutlich, dass Mischverkehrsflächen von der Bevölkerung nicht angenommen werden. Er könne sich auch nicht vorstellen, dass Zwischenablagemöglichkeiten für Waren in der Innenstadt diese attraktiver machten. Immerhin seien viele zehntausend Menschen hier unterwegs und kauften ein. Mit Blick auf Ziffer 8 des Antrags befürchtet er einen Rückbau der Parkhäuser in der Innenstadt. Das Ladensterben habe an einigen Stellen bereits begonnen. Man brauche ein Konzept, das den ÖPNV stärke. Wenn dieser auch in der Rushhour komfortabel sei, könne man eventuell auf ein paar Parkplätze verzichten. Doch statt auf Freiwilligkeit durch ein besseres Angebot und auf die Vernunft des mündigen Bürgers setze man auf Zwang, bevor man die Angebote ausgebaut habe. Damit mache man den zweiten Schritt vor dem ersten. Ein Bürgerbegehren komme nicht zustande, sodass man weiterhin auf Vermutungen angewiesen sei, was die Bürgerschaft in Stuttgart denn nun wolle.

OB Kuhn zeigt sich erstaunt über die Aufgeregtheit, die das Thema hervorrufe. Städte in Deutschland und Europa, die etwas auf sich hielten, hätten alle ein Programm, um die Aufenthaltsqualität für die Menschen in der Stadt zu steigern. Damit wachse auch die Geschäftstätigkeit in der Stadt, weil das Einkaufen stressfreier sei und man danach noch etwas essen könne. Es gebe Städte, die Stuttgart hier weit voraus seien und bei denen sich der Handel und der Fremdenverkehr belebt hätten. Wenn man attraktiven Wohnraum in der Innenstadt schaffe, wo Menschen gerne wohnten und mit einer guten Aufenthaltsqualität, dann kämen auch Menschen von auswärts gerne dorthin. Warum sollte dies in Stuttgart anders sein?

An StR Rudolf wendet er sich mit dem Hinweis, selbstverständlich müsse man sich die Sorgen des Handels anhören, doch seien dessen Hauptprobleme zum einen der immer noch anwachsende Internethandel und zum anderen die extrem hohen Mieten in attraktiven Lagen. Er habe den Eindruck, dass die Funktionäre des Handels dies ausblendeten und die Schuld beim Feinstaubalarm oder fehlenden Parkplätzen suchten. Im Übrigen sehe er es als seine Aufgabe - und die des Gemeinderats - an, das, was in der Innenstadt passiere, nicht nur vom Handel definieren zu lassen, sondern von vielen Interessen, z. B. Menschen, die dort wohnten, flanieren oder Kultureinrichtungen besuchen wollten. Aufgabe der Stadt sei es, hier einen Ausgleich zu schaffen. Demokratie heiße doch Interessensausgleich zum Wohle aller. Breuninger habe beim Dorotheenquartier großen Wert auf eine beruhigte, autofreie Lösung gelegt und dafür eine Tiefgarage gebaut. Dies könnte ja für die ganze Stadt bzw. Innenstadt ein gutes Modell sein. Darüber, so habe er den Antrag verstanden, sollte man reden. Natürlich sei dies nicht ganz widerspruchsfrei. StR Rudolf habe z. B. auf die Schranken hingewiesen, die ein Problem darstellten. Und gegenüber StR Conz betont er, der ÖPNV in der Innenstadt sei bereits ziemlich gut. Er verfolge das Ziel, verstärkt Mischverkehrsflächen in der Innenstadt zu schaffen und besser zu vernetzen. Stuttgart sollte sich nicht von der internationalen Entwicklung, die zudem keine kurzfristige Modeerscheinung sei, abkoppeln. Er appelliert an die CDU-Fraktion, offen zu bleiben für Lösungen und sich aktiv an dem Suchprozess für die Stadt mit guter Aufenthaltsqualität zu beteiligen.

StR Kotz (CDU) kann in manchem durchaus zustimmen, doch hätten in den allermeisten der genannten Städte breite Mehrheiten in einem breiten Konsens Maßnahmen beschlossen, die zu dieser großen Veränderung in den Innenstädten geführt hätten. Dadurch hätten sie eine breite Akzeptanz in der Stadtgesellschaft gefunden. In Stuttgart sei genau das Gegenteil der Fall: Die knappste aller Mehrheiten werde zustimmen und damit die Gesellschaft spalten. Die Antragsteller hätten sich nicht dafür interessiert, ob und wo es Kompromisslinien gebe. Insofern sollten sie auch die Verantwortung bei der Umsetzung tragen.

StR Dr. Fiechtner (AfD) stellt fest, dass die Frage, was wirklich lebenswert sei, sehr unterschiedlich beantwortet werde. Die Äußerungen von OB Kuhn seien völlig abgehoben von der Realität. Er erwähne verschiedene Städte, ohne einen korrekten Vergleich durchzuführen. Zum Beispiel unterschlage er die Fragen nach der Wirtschaftskraft dieser Städte und was zu ihrem Wohlstand beitrage. Stuttgart sei die Autostadt mit zwei herausragenden Autofirmen und lebe, wie andere Städte auch, vom Handel und der Produktion. Wer an diesen Wurzeln ansetze, zerstöre den Wohlstand einer Kommune. Deshalb könne er nur wünschen, dass "bei den nächsten Kommunalwahlen endlich diese totalitären linken, grünen Positionen keine Mehrheit mehr in diesem Rat finden". Sie seien "Feinde der Freiheit" und äußerten ihre "unüberwindliche Lust an der Gängelung dieser Bürger". Auf Nachfrage von OB Kuhn bestätigt StR Dr. Fiechtner seine Äußerung und unterstreicht, die von ihm genannten Parteien ergingen sich "in der Lust daran, die Bürger mit irgendwelchen Satzungen, mit Reglementierungen zu überschütten, die sie in ihren bürgerlichen Freiheiten nach und nach einschränken. Sie benutzen natürlich das Instrument der Mehrheitsentscheidung", doch sei diese "nicht immer der Weisheit letzter Schluss".

StR Winter nimmt diese Äußerung einigermaßen fassungslos zur Kenntnis. Gegenüber StR Rudolf macht er deutlich, dass er sich an einem Samstag persönlich davon überzeugt habe, dass es in den Parkhäusern der Innenstadt keine extreme Parkplatznot gebe. Er betont, man mache keine Schnellschüsse, sondern orientiere sich an den guten Erfahrungen in anderen europäischen Städten.

Abschließend stellt OB Kuhn fest:

Der Gemeinderat fasst den in Antrag Nr. 205/2017 dargelegten Zielbeschluss mit 31 Ja- und 27 Nein-Stimmen bei 1 Enthaltung mehrheitlich. Damit ist der Antrag angenommen.
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