Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Jugend und Bildung
Gz: JB
GRDrs 664/2022
Stuttgart,
11/09/2022


Sicherstellung des uneingeschränkten inklusiven Rechtsanspruchs für alle Kinder gemäß SGB VIII und KJSG



Mitteilungsvorlage


Vorlage anzurSitzungsartSitzungstermin
JugendhilfeausschussKenntnisnahmeöffentlich21.11.2022

Bericht:



1. Vorbemerkung

Die inklusive Tagesbetreuung von Kindern ist ein im SGB VIII sowie im Baden-Württembergischen Kindertagesbetreuungsgesetz (KitaG) rechtlich definierter Anspruch. Diesem wird in Stuttgart bereits seit Jahren durch Beschlüsse des Gemeinderates Rechnung getragen, zuletzt durch die GRDrs 84/2019 und 284/2021 („Kita für alle“).

Aktuell wird die inklusive Kindertagesbetreuung beim städtischen Kita-Träger wie folgt umgesetzt:

· Schaffung eines Sachgebiets „Inklusion und Kinderschutz“ in der Abteilung Kita/SK, besetzt mit einer VZK (100%)
· Zuordnung der beiden städtischen Fördergruppen für insgesamt 20 Kinder, die von seelischer Behinderung bedroht sind, zu diesem Sachgebiet
· Einsatz von Honorarkräften und Freiwilligen im Rahmen des freiwilligen sozialen Jahres (FSJ) zur Begleitung von Kindern mit hohem Förderbedarf
· Aufbau eines Pools von Inklusionsfachkräften mit derzeit 8 VZK (Schaffung von 3 VZK zum Stellenplan 2022/2023, 5 VZK sind aktuell dem gesamtstädtischen Stellenpool zur Reduktion von Fremdkräften belastet und sollen zum Stellenplan 2024/2025 geschaffen werden).
· Beteiligung mit 3 Kitas am Modellprojekt „Kita S-Plus“, in dem eine Inklusions-Fachkraft für bis zu 5 Kinder mit Förderbedarf in einer Kita fest angestellt ist.


2. Rechtliche Grundlagen der inklusiven Kindertagesbetreuung

Die rechtlichen Grundlagen zur Inklusion sind auf mehreren Ebenen verbindlich verankert.

Durch Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen wird geregelt, dass alle Menschen mit Behinderung das Recht auf Bildung haben und dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage von Chancengleichheit verwirklicht werden soll.

Durch die Neuordnung des SGB VIII im Rahmen des Kinder-und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Juni 2021 wurden die bisherigen bundesrechtlichen Vorgaben verstärkt und der uneingeschränkte Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz benannt.

Die bisher im Gesetzestext enthaltene Bedingung „wenn es der individuelle Förderbedarf zulässt“ entfällt. Die in § 2 Abs. 2 des Baden-Württembergischen KitaG aktuell noch enthaltene Einschränkung „sofern der Hilfebedarf dies zulässt“ ist damit ebenfalls hinfällig.

Das Kinder-und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) und die dort benannte Einführung von Verfahrenslosten gemäß § 10b SGB VIII (vgl. GRDrs 337/2022) bieten eine gute Grundlage zur Umsetzung dieses uneingeschränkten Rechtsanspruchs und für die Zusammenarbeit aller Akteure im Rahmen der Verantwortlichkeiten.

Für den Bereich der Kindertageseinrichtungen führt die oben dargestellte Öffnung des gesetzlichen Anspruchs zu deutlich höheren Herausforderungen. Es zeigt sich bereits jetzt, dass es neuer Strukturen bedarf, die es grundsätzlich jeder Kita ermöglichen, jedes Kind aufzunehmen und entsprechend seiner individuellen Bedarfe zu fördern, zu bilden und zu betreuen – unabhängig von sozialer und nationaler Herkunft, Geschlecht, Religion und gesundheitlicher Beeinträchtigung bzw. Behinderung.

3. Aktuelle Situation in den städtischen Kindertageseinrichtungen

Kinder mit erhöhtem Förder- und Betreuungsbedarf treffen auf Kitateams, die sich durch den Fachkräftemangel bereits aktuell in sehr belastend empfundenen Situationen befinden. Die meisten Teams haben in der Umsetzung der inklusiven Kindertagesbetreuung einen zusätzlichen Beratungs- und Anleitungsbedarf.

Kinder mit erhöhtem Unterstützungsbedarf benötigen eine intensive Begleitung, um den oft für sie ungewohnt großen Kindergruppen und strukturierten Tagesabläufen einer Kita gewachsen zu sein. Eine Überforderung führt schnell zu Verhaltensweisen, die das Konfliktpotential innerhalb der Einrichtung, der Kindergruppe und mit den Eltern der anderen Kinder erhöht. Die Folge ist dann häufig die Forderung „dieses Kind kann nicht in dieser Kita bleiben!“ Dem muss durch wirksame Maßnahmen entgegengesteuert werden.

Aktuell können viele Kinder mit Unterstützungsbedarf, vor allem bedingt durch den Mangel an Inklusionsfachkräften, oft über lange Zeit nur eingeschränkt oder gar nicht aufgenommen werden. Der Rechtsanspruch auf inklusive Kindertagesbetreuung kann deshalb nicht erfüllt werden.

Zur Sicherstellung des Rechts auf Teilhabe und Förderung braucht es deshalb zeitnah einsetzbare und ausreichend qualifizierte Inklusionsfachkräfte unterschiedlicher Fachrichtungen. Aus diesem Grund begann der städtische Träger mit dem Aufbau eines Pools eigener Inklusionskräfte (vgl. GRDrs 84/2019). Derzeit werden durch 10 Fachkräfte (z.T. in Teilzeit) auf den o. g. 8 Inklusionsfachkraftstellen 24 Kinder in 8 Einrichtungen gefördert und begleitet. Der Stellenumfang pro Kind richtet sich nach der Höhe der bewilligten Eingliederungshilfe.

Die Anzahl der Kinder mit einer (drohenden) Behinderung ist in den städtischen Kindertageseinrichtungen in den letzten Jahren stetig angestiegen. Zum Stichtag 31.03.2022 wurden 116 Kinder in den städtischen Kitas betreut (31.03.2020: 71). Hinzu kommen 20 Kinder aus den beiden städtischen Fördergruppen.
Es ist davon auszugehen, dass sich die Steigerung auch in den nächsten Jahren fortsetzen wird, nicht zuletzt durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (siehe nächster Abschnitt). Zum 01.09.2022 lagen der Sachgebietsleitung Inklusion und Kinderschutz 136 Bedarfsmeldungen mit bereits bewilligten Bescheiden der Eingliederungshilfe vor.

Aktuelle Bedarfszahlen zum Stichtag 01.09.2022 in den Städtischen Kitas:

Bedarf
2022/23
Begleitung durch Honorarkräfte Begleitung durch FSJBegleitung durch Inklusionsfachkräfte (Pool)Kinder ohne Begleitung
136381624 58

Für Kinder ohne Begleitung werden die fehlenden personellen Ressourcen entweder durch Platzreduzierung oder stark eingeschränkte Betreuungszeiten kompensiert, bis hin zur Verzögerung der Aufnahme der Kinder.

3.1 Honorarkräfte

Eine im Jahr 2019 erfolgte Statusüberprüfung aller Honorarkräfte durch die Deutsche Rentenversicherung ergab die rechtlich bedingte Notwendigkeit, Assistenzleistungen perspektivisch in Form von Festanstellungen zu sichern, da eine Abgrenzung von Assistenz- und Betreuungsleistung nur selten eindeutig gelingt. Der Anspruch einer Inklusion des Kindes in der Kitagruppe ist nicht ohne inhaltliche Einbindung der begleitenden Fachkraft einlösbar. Zumindest mittelfristig wird sich der Einsatz von Honorarkräften deshalb auf ein sehr niedriges Niveau einpendeln.

3.2 Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ)

Eingesetzte Kräfte im FSJ sind in der Regel junge Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen. Sie sind sehr hilfreich bei der Begleitung insbesondere von körperlich eingeschränkten Kindern. Damit decken die Freiwilligen des FSJ aber nur einen geringen Bedarf der Anforderungen an Begleitung von Kindern ab. Zudem sind FSJ laut Aussage der vermittelnden Organisationen immer schwerer zu gewinnen. Im laufenden Betreuungsjahr (2022/2023) konnte bis heute lediglich ein Drittel des FSJ Bedarfes gedeckt werden.

3.3 Fachkräfte-Pool

Zur bedarfsgerechten Begleitung der wachsenden Anzahl der hilfeberechtigten Kinder und zur Umsetzung der rechtlichen Vorgaben ist der Aufbau und die Erweiterung eines eigenen Fachkräftepools im Jugendamt erforderlich. Mit der Umsetzung wurde, wie erwähnt, bereits erfolgreich begonnen.

Die Fachkräfte aus dem Pool sind organisatorisch der Sachgebietsleitung „Inklusion und Kinderschutz“ zugeordnet. Hieraus ergibt sich für die Teams in den Einrichtungen und die Fachkräfte eine große Klarheit bezüglich der jeweiligen Prozesse, Rollen und Aufgaben. Der Auftrag, bezogen auf die individuelle Teilhabeleistung für das Kind, bleibt klar und vermischt sich nicht mit anderen Betreuungsaufträgen bei personellen Engpässen. Die Bündelung der Inklusionsfachkräfte mit Ihren unterschiedlichen professionellen Hintergründen ermöglicht auch im Kontext der wechselnden Arbeitseinsätze eine passgenauere schnelle Hilfe und insgesamt eine gute qualitative Weiterentwicklung.

Eine in Vollzeit angestellte Fachkraft kann, je nach Bewilligungsumfang der einzelnen Teilhabeleistung durch den Leistungsträger (Sozial- oder Jugendamt), von einem bis zu vier Kindern in Einrichtungen betreuen. Durch die kontinuierliche und situationsorientierte Begleitung entsteht eine sichere Bindung zwischen Fachkraft und Kind. Der Austausch und das Erstellen eines Förderplans mit den weiteren Fachkräften der Kitas dient der ganzheitlichen Förderung der Kinder in der Einrichtung. Die kontinuierliche Zusammenarbeit lässt den Beratungs- und Fortbildungsbedarf der Teams gezielt erkennen und unterstützt den Kontakt und die Kommunikation mit den Familien.

Aus den bisherigen Erfahrungen und Erkenntnissen der „Kitas S-Plus“ und eines Fachkräfte-Pools kann ein Konzept entstehen und daraus Standards erarbeitet werden, die zur kontinuierlichen Weiterentwicklung zu Inklusiven Kitas von großer Bedeutung sind.
Durch die Festanstellung beim Träger besteht die Möglichkeit der Qualifizierung der Fachkräfte, um ihr Expertenwissen zu erweitern und dieses als Schlüssel für eine erfolgreiche Inklusion in Kindertageseinrichtungen zu nutzen.

Der Aufbau eines Fachkräftepools beim städtischen Träger erfolgt in enger Absprache mit der Zentralen Informations– und Beratungsstelle des Gesundheitsamts (ZIB), die aktuell den Auftrag der Einrichtung eines trägerübergreifenden Pools für kleinere Kitaträger erarbeitet und umsetzt. Diese unterschiedlichen Poollösungen unterscheiden sich gegebenenfalls in den Strukturen. Die Inhalte decken sich.

4. Künftige Anforderungen an die Struktur des Sachgebiets Inklusion und des Fachkräftepools

Aktuell ist die Sachgebietsleitung mit 100% VZK für sämtliche Aufgaben im Themenbereich Inklusion, eng verbunden mit dem Aufgabenfeld Kinderschutz, zuständig. Mit der notwendigen Aufstockung der Ressourcen steigt der Aufwand für die organisatorische und fachliche Koordination aller Poolkräfte. Für diese Aufgaben sowie zur Wahrnehmung der Dienst- und Fachaufsicht ist der Einsatz einer zusätzlichen Teamleitung notwendig. Diese Person benötigt sowohl fachliche als auch rechtliche Kenntnisse und neben Führungs- eine ausgeprägte Beratungskompetenz.

Zudem sind für reine Verwaltungsaufgaben Personalressourcen für eine Verwaltungskraft als Assistenz für die Sachgebietsleitung erforderlich.

5. Ausbau der Praxisberatung in der Stabsstelle Qualität und Qualifizierung (QQ)

Die Stabsstelle QQ ist als interner Dienst für das gesamte Jugendamt zuständig und bietet für die Abteilungen interne Fort- und Weiterbildung, Begleitung von Qualitätsentwicklungsprozessen und Praxisberatung an (vgl. Geschäftsbericht Jugendamt 2021).
QQ unterstützt in enger Kooperation mit der Abteilung Kita/SK deren Fachthemen, so auch das Thema Inklusion.

Die Praxisberatung auf der Grundlage des § 72 SGB VIII ist seit vielen Jahren ein wichtiges Angebot für die Einrichtungsleitungen und Teams der Kindertages- und Schulkindeinrichtungen der Abteilung Kita/SK. Sie orientiert sich an gesetzlichen und konzeptionellen Vorgaben sowie den Leitlinien des Jugendamtes. Ziel ist die Erweiterung der Handlungskompetenz und die Implementierung der Vorgaben in das alltägliche pädagogische Handeln.
Die Schritte auf dem Weg zu einer inklusiven Praxis werden gemeinsam definiert und geplant, die eigene Haltung und der pädagogische Alltag überprüft, um die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen und deren Familien im Lebensort Kita und Schulkindbetreuung zu berücksichtigen.

Der Themenbereich Inklusion ist im zentralen Team der Stabsstelle QQ personell verankert. Aufgabe dieser Themenexperte ist die Planung der fachlichen Bedarfe in Form von Fortbildung, Praxisberatung und konzeptionellen Prozessen.

Die Praxisberatung bietet direkte fachliche Unterstützung und Begleitung der Einrichtungen auf dem Weg zur inklusiven Einrichtung im seit 2020 umgesetzten trägerübergreifenden Stuttgarter Programm „Kita für alle“. Außerhalb der Hierarchiestruktur erhalten Leitung und Teams Unterstützung für Interaktionsprozesse mit Kindern, die vorurteilsbewusste und inklusive Gestaltung von Bildungsräume und in den Kooperationsbeziehungen zu Inklusionsfachkräften und Eltern.

Die Praxisberatung Inklusion soll im Zusammenhang mit der Umsetzung des KJSG ein eigenständiges Beratungsthema sein und damit den § 22a Abs. 4, SGB VIII sichern.
Aufgrund der steigenden Nachfrage an Beratung wird ein erhöhter Stellenbedarf gesehen, der sich nicht durch Reduzierung des Beratungsangebots an anderer Stelle decken lässt.

6. Umsetzung bei der Stadt Stuttgart - Zusammenarbeit an Schnittstellen

Die Schnittstellen des städtischen Kitaträgers zu anderen Ämtern und der Stabsstelle Qualität und Qualifizierung wurden bereits dargelegt. Die Verbindung der beschriebenen Strukturen für den Bereich der Kindertagesbetreuung mit der ab Mitte 2023 (siehe GRDrs 337/2022) geschaffenen Funktion der Verfahrenslotsen sind in folgendem Schaubild erläutert.

Wie im SGB VIII § 10b Absatz 2 geregelt, unterstützt der/die Verfahrenslotse bei Bedarf die Familien bei den Antragsstellungen. Damit ist sie/er im Vorfeld des Kitabesuchs eines Kindes tätig und bildet damit eine Schnittstelle zum städtischen Träger. Die oben dargestellten Herausforderungen und Prozesse bleiben von dem Einsatz dieser Funktion unberührt.

Fazit

Der städtische Kita-Träger hat die erforderlichen Schritte zur Gewährleistung einer inklusiven Kindertagesbetreuung eingeleitet. Die bereits geschaffene Struktur zur Erfüllung des uneingeschränkten Rechtanspruchs für alle Kinder bewährt sich, deckt aber aufgrund fehlender Kapazitäten nur knapp 60% des bestehenden Bedarfes. Auf der Grundlage der aktuell vorliegenden Zahlen ist damit zu rechnen, dass der Bedarf sich stetig erhöht. Neben dieser rein zahlenmäßigen Betrachtungsweise müssen in den kommenden Jahren die beschriebenen inhaltlichen Herausforderungen gelöst und der Handlungsbedarf angegangen werden.

Das Ziel ist, die im Kinder- und Jugendstärkegesetz (KJSG) geforderten Veränderungen zur Verbesserung zur Teilhabe von allen Kindern in enger Kooperation und Vernetzung mit den jeweiligen Akteuren zu erfüllen, die Fachkräfte in Kitas dafür zu stärken und mit konkreten Maßnahmen zu unterstützen.



Beteiligte Stellen

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Vorliegende Anträge/Anfragen

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Isabel Fezer
Bürgermeisterin





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