Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Jugend und Bildung
Gz: JB
GRDrs 576/2022
Stuttgart,
10/31/2022


Careleaver: Projektbericht Leaving Care in der Kommune



Mitteilungsvorlage


Vorlage anzurSitzungsartSitzungstermin
JugendhilfeausschussKenntnisnahmeöffentlich21.11.2022

Bericht:


Das Jugendamt (Abteilung Erziehungshilfen und Abteilung Familie und Jugend) beteiligt sich am bundesweiten Projekt „Fachstelle: Leaving Care in der Kommune“ der Universität Hildesheim und der Internationalen Gesellschaft für Erziehungshilfen im Zeitraum von Oktober 2020 bis Dezember 2022.

Nachfolgender Bericht gibt – vorab zum Vortrag der Leiterin des bundesweiten Projekts Frau Dr. Severine Thomas (Universität Hildesheim) am 21.11.2022 – Hintergrundinformationen zum Thema Leaving Care, zu gesetzlichen Grundlagen, zur Situation von Careleaver*innen in Stuttgart sowie zu den Projektergebnissen für die Landeshauptstadt.

Hintergrund zu Leaving Care

Careleaver*innen sind junge Menschen, die in stationären Erziehungshilfen und Pflegefamilien leben und sich im Übergang in ein eigenständiges Leben befinden oder nicht mehr im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe betreut werden. Weiterhin steht der Begriff „Careleaver*innen“ auch unabhängig von der unmittelbaren Übergangssituation für die Beschreibung und Selbstbezeichnung von Menschen mit „Jugendhilfeerfahrung“ (Leaving Care als biografisches Merkmal).1
1Ehlke, C., Sievers, B. & Thomas, S. (2022). Werkbuch Leaving Care. Frankfurt a. M.: IGfH-Eigenverlag.

Careleaver*innen benötigen bestimmte Formen der Unterstützung, damit ihr Übergang in ein selbstständiges Leben gelingen kann.
Bei der Einschätzung der Bedarfe und Herausforderungen von Careleaver*innen sind sozialwissenschaftliche Analysen mit zu beachten. So haben Forschungen gezeigt, dass unter anderem auf Grund längerer (Aus-)Bildungszeiten und erschwertem Zugang zum Wohnungsmarkt sich die Jugendphase bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt verschoben hat. Begannen 1970 junge Menschen durchschnittlich bereits mit 16,5 Jahren eine Ausbildung, starteten sie im Jahr 2020 im Durchschnitt erst mit 19 Jahren in die berufliche/ hochschulische Weiterbildung. Auch das Durchschnittsalter beim Auszug aus dem Elternhaus hat sich laut dem statistischen Bundesamt verschoben und betrug im Jahr 2020 23,8 Jahre.2,3
2 Heinz, W. R. (2011). Jugend im gesellschaftlichen Wandel. In Krekel, E. M. & Lex, T. (Hrsg). Neue Jugend,neue Ausbildung? (S. 15-30). Bielefeld: Bertelsmann.
3 Statistisches Bundesamt (2021). Pressemitteilung Nr. N 069 vom 2. Dezember 2021. Abruf am 24.10.2022. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/12/PD21_N069_12.html

Junge Volljährige, die spätestens mit 21 Jahren, oft bereits schon mit 18 Jahren, die Wohngruppen bzw. Pflegefamilien verlassen, in denen sie bis dahin aufwuchsen, müssen deutlich früher selbstständig werden als der Großteil ihrer Altersgenossen. Careleaver*innen stehen daher vor der Herausforderung, frühzeitig Entscheidung zu treffen und Zukunftspläne in Bezug auf ihren Bildungsweg, die Berufswahl und die Wohnungssuche zu entwickeln und diese selbstständig umzusetzen. Dabei stehen ihnen deutlich geringere Ressourcen (Finanzen, familiäre Unterstützung und soziale Netzwerke) zur Verfügung als dem Durchschnitt der deutschen jungen Bevölkerung.
So kommt es im Anschluss an die Zeit in der Wohngruppe bzw. Pflegefamilie durch den Wechsel in die Selbstständigkeit häufig zu finanziellen Engpässen sowie auf Grund von wegfallender sozialer Unterstützung zu psychischen Krisen. Daher haben Careleaver*innen ein erhöhtes Risiko für Bildungsabbrüche, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit sowie für soziale Isolation und psychischen Belastungen.
Der Gesetzgeber hat deswegen im neuen Kinder- Jugendstärkungsgesetz auf diese Bedarfslagen reagiert und die Ansprüche von jungen Volljährigen in Fremdunterbringung gestärkt und erweitert.

Rechtlicher Hintergrund

Die gesetzliche Grundlage für Hilfen für junge Volljährige ist in § 41 SGB VIII geregelt. Auch jungen Menschen über 18 Jahre können Hilfen erhalten. Die Unterstützung kann in ambulanter Form (z. B. Erziehungsbeistand), als stationäres Angebot (z. B. Betreutes Jugendwohnen) oder als Hilfe in einer Pflegefamilie durch das Jugendamt bewilligt werden. Die Hilfe wird in der Regel nur bis zum 21. Lebensjahr gewährt, in begründeten Einzelfällen kann sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus verlängert werden.
Durch Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz am 10.06.2021 haben sich folgende Änderungen ergeben:
· Grundlage des Rechtsanspruchs (§ 41 Abs. 1 SGB VIII n. F.): Vor der Reform konnten Hilfen nur gewährt werden, solange die individuelle Situation des jungen Menschen dies notwendig machte. Nun soll die Hilfe gewährt werden, solange durch die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen eine selbstständige Lebensführung nicht gewährleistet ist.
· Coming Back-Option (§ 41 Abs. 1 S. 3 SGB VIII n. F.): Auch wenn eine Hilfe beendet wurde, kann erneut Hilfe in gleicher oder anderer Form gewährt werden. Die Coming Back-Option ist unabhängig von der Dauer der Leistungsunterbrechung.
· Übergangsplanung (§ 41 Abs. 3 SGB VIII n. F. iVm § 36b SGB VIII): Ca. ein Jahr vor Hilfeende soll der Träger der öffentlichen Jugendhilfe prüfen, ob auf Grundlage des Bedarfs ein Zuständigkeitswechsel zu anderen Sozialleistungsträgern angezeigt ist.
· Kostenheranziehung (§ 94 Abs. 6 SGB VIII n. F.): Der Kostenbeteiligungssatz der jungen Menschen an der Hilfe wurde von 75 % auf 25 % gesenkt.
· Recht auf Nachbetreuung (neue geschaffene Norm § 41a SGB VIII): Die jungen Volljährigen haben nach Hilfeende einen Anspruch darauf, innerhalb eines angemessenen Zeitraums bei der Verselbstständigung beraten und unterstützt zu werden. Der Umfang dieser Nachbetreuung soll im Hilfeplan dokumentiert werden. Nach Hilfeende soll sich das Jugendamt beim jungen Menschen in regelmäßigen Abständen melden.

Projekt Leaving Care in der Kommune

Um die Übergänge aus der Jugendhilfe in andere Systeme zu verbessern und einen Standard für eine Nachbetreuung in Stuttgart zu entwickeln, schloss sich das Jugendamt 2021 dem Projekt „Fachstelle: Leaving Care in der Kommune“ an. Parallel engagierte sich die Evangelische Gesellschaft im Projekt „Crossing Point“ ebenfalls zum Thema Leaving Care.
In dem Fachstellen-Projekt wirken neben Stuttgart noch vier weitere Kommunen in ganz Deutschland mit. Die Kommunen werden durch die Universität Hildesheim und die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen dabei beraten und unterstützt, gute Infrastrukturen für Careleaver*innen vor Ort (weiter) zu entwickeln. Weitere Ziele des Vorhabens sind der Aufbau einer digitalen Austauschplattform für Kommunen zu Leaving Care (Internetseite: https://www.fachstelle-leavingcare.de/), die Analyse von Schnittstellen verschiedener sozialer Dienste sowie der Aufbau einer bundesweiten Fachstelle für Leaving Care.

Folgende Ergebnisse wurden im Rahmen des Projekts in Stuttgart erzielt:
· Es wurden Entwürfe für eine Orientierungshilfe, einen Ablaufplan und die Dokumentation für Hilfen für junge Volljährige entwickelt. Diese werden noch in 2022 mit allen fünf sozialräumlichen Trägern der Hilfen zur Erziehung und den Beratungszentren abgestimmt.
· Eigene städtische Webseite zu Angeboten für Care Leaver*innen wurde erstellt: https://www.stuttgart.de/buergerinnen-und-buerger/kinder-und-jugendliche/angebote-fuer-kinderund-jugendliche/angebote-fuer-careleaver-in-stuttgart/
· Es wurde ein rechtskreisübergreifender Arbeitskreis ins Leben gerufen, der sich über die Projektphase hinaus zum Ziel gesetzt hat, (Anschluss-)Hilfen verschiedener Ämter besser zu vernetzen, um Versorgungslücken für Careleaver*innen zu schließen (Teilnehmende: Beratungszentren, Abteilung Erziehungshilfen des Jugendamts, Jobcenter (Dienststelle U 25), Bafög-Amt, BAB, Wohngeld, Evangelische Gesellschaft, Familienkasse).
· Nachbetreuungsangebote wurden entwickelt (Bsp.: Auszugsordner, Beteiligungsgruppe).
· Auf Grundlage der Erkenntnisse des Projekts haben fünf sozialräumliche Träger der Hilfen zur Erziehung Folgendes vereinbart: · Durchführung der Workshop-Reihe „Wohnungsführerschein“ durch die Abteilung Erziehungshilfen: An sechs Abenden wurden junge Menschen auf ihren Auszug vorbereitet (z.B. Mietrecht, Versicherungen, Stromsparen usw).
· Durchführung von zwei Careleaver-Seminaren und darauf aufbauende fachliche Impulse zu den Themen „Nachbetreuung“, „Geschwisterbeziehungen“ und „Abschiede und Beziehungen in Wohngruppen“ durch die Abteilung Erziehungshilfen und den Careleaver e. V. (Verein selbstorganisierter Careleaver*innen).
Auf Grundlage der Projekt-Ergebnisse wurden folgende Entwicklungsbedarfe zur Verbesserung der Versorgung von Careleaver*innen in Stuttgart identifiziert:
· Für Angebote zur Coming Back-Option und für Angebote zur Nachbetreuung für Careleaver*innen braucht es fachliche Konzepte, einheitliche Standards und ggf. ergänzende zusätzliche finanzielle Regelungen.
· Verbesserung der Wohnungssituation in Stuttgart für Careleaver*innen.
· Entwicklung einer standardisierten Willkommens- und Abschiedsstruktur in der stationären Jugendhilfe.
· Für Careleaver*innen mit psychiatrischen Bedarfen braucht es weitere Unterstützungsmöglichkeiten vor allem an der Schnittstelle Kinder- und Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie.
· Etablierung von Sprecher*innenräten.
· Ggf. Aufbau gemeinsamer Trägerangebote beispielsweise für Seminare, Wohnungsführerscheine usw.
· Engere Vernetzung zwischen den Trägern der Hilfen zur Erziehung und dem Careleaver e. V.

Beteiligte Stellen

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Vorliegende Anträge/Anfragen

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Isabel Fezer
Bürgermeisterin







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