Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Soziales und gesellschaftliche Integration
Gz: SI
GRDrs 210/2020
Stuttgart,
10/06/2020


Bericht über die Arbeit des Arbeitskreises Leben Stuttgart e. V. (AKL)



Mitteilungsvorlage


Vorlage anzurSitzungsartSitzungstermin
Sozial- und GesundheitsausschussKenntnisnahmeöffentlich19.10.2020

Bericht:


Der Arbeitskreis Leben Stuttgart e. V. (AKL) bietet seit 1985 Hilfen in Lebenskrisen und bei Selbsttötungsgefahr für Betroffene und Angehörige an.

Er leistet seit 1985 eine unverzichtbare und erfolgreiche Arbeit im Bereich der Suizidprophylaxe und der Angehörigenarbeit und trägt damit zur Sicherstellung der psychosozialen Versorgung in diesem Bereich bei.

Zuletzt wurde über den AKL Stuttgart e. V. mit der GRDrs 118/2017 „Förderung des Vereins Arbeitskreis Leben Stuttgart e. V. ab 2018“ berichtet.

In jüngster Vergangenheit erreichte das Thema Suizid in einem besonderen Ausmaß die Öffentlichkeit z. B. durch Suizide von Leistungssportlern und Personen des öffentlichen Lebens. Eine breite Öffentlichkeit hat sich daraufhin mit diesem Thema auseinandergesetzt.

Weltweit nehmen sich jährlich rund 1 Million Menschen das Leben. Suizid stellt eines der größten Gesundheitsprobleme der Welt dar. 10.000 Menschen sterben in Deutschland jährlich durch Suizid. Das bedeutet, dass sich ca. alle 50 Minuten ein Mensch das Leben nimmt und alle 5 Minuten ein Versuch stattfindet. In Baden-Württemberg sind es jährlich ca. 1.300 Menschen und in der Landeshauptstadt Stuttgart ca. 80 Personen.

Nach Unfällen sind Suizide die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen von 15 bis 20 Jahren. Jede 3. Selbsttötung wird von Menschen über 65 Jahren verübt. Durch Suizide sterben jährlich dreimal so viele Menschen als durch Verkehrsunfälle. Insgesamt gibt es mehr Tote durch Selbsttötung als durch Unfälle, illegale Drogen, Mord und Aids zusammen. Auf jeden Suizid kommen 10 bis 15 Versuche. Frauen machen dreimal häufiger Suizidversuche als Männer, aber Männer sterben dreimal häufiger als Frauen durch Suizid.


Von jedem Suizid sind ca. 6 Menschen (Angehörige, Freunde) direkt betroffen. Oft wissen sie nicht, wie sie damit weiterleben können und stürzen selbst in Lebenskrisen mit einem erheblichen Suizidrisiko.

Jeder Mensch kann in einer Belastungssituation suizidal werden. 80 % aller Deutschen haben schon einmal Suizidgedanken gehabt. Nicht selten leiden suizidale Menschen unter psychischen Erkrankungen, insbesondere unter Depressionen.

In acht von zehn Fällen werden Suizidabsichten vorher angekündigt. Oft scheuen sich Betroffene aber auch davor, mit ihren nächsten Angehörigen darüber zu sprechen, weil sie diese nicht belasten wollen. Jugendliche wenden sich eher an Gleichaltrige als an Erwachsene (Pressemitteilung des Arbeitskreises Leben Stuttgart e. V. zum Welt-Suizid-Präventionstag am 10. September 2019).

Die Hilfe des AKL richtet sich an Menschen in einer schweren Lebenskrise mit Suizidgedanken, nach einem Suizidversuch, in Sorge um einen nahestehenden Menschen und an Hinterbliebene nach dem Suizid eines Angehörigen. Der AKL verfügt über 2,25 Fachkraftstellen und aktuell 39 Ehrenamtliche (zur Statistik des AKL, siehe Anlage 2).

Er bietet Menschen in akuter Krise zeitnahe Gesprächstermine, Krisenintervention und Beratung durch Fachkräfte, Begleitung durch ehrenamtliche Krisenbegleiterinnen und
-begleiter, Beratung für Angehörige, Freunde und andere Betroffene, Trauergruppen und Einzelgespräche für Menschen, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben. Darüber hinaus bietet der AKL Fortbildungs- und Informationsveranstaltungen zum Thema Selbsttötung und Lebenskrisen (z. B. für Schulen, soziale Einrichtungen, Unternehmen etc.), Supervision für Kolleginnen und Kollegen, ehrenamtliche AKL-Mitarbeit als Krisenbegleitung mit umfassender Ausbildung und regelmäßiger Gruppensupervision.

In Stuttgart wurde übergreifend ein Arbeitskreis der Krisendienste (AK Krisendienst) gegründet, in dem verschiedene in diesem Feld tätige Organisationen zusammenwirken.
Im Juni 2020 begeht der AKL sein 35-jähriges Jubiläum.

Öffentlichkeitsarbeit 2020
Im Jahr 2020 sind folgende Aktivitäten geplant:
· 25. September 2020, 18:00 Uhr bis 20:30 Uhr, Film & Podiumsdiskussion, Film: "Dem Himmel zu nah. Suizid.ZurückBleiben.WeiterL(i)eben.", AKL Stuttgart in Kooperation mit dem AK Krisendienst, Evangelisches Bildungszentrum Hospitalhof (verschoben auf 17.09.2021).

· 25. November 2020, 20:00 Uhr bis 21:30 Uhr, Benefizkonzert des Daimler Sinfonieorchesters zu Gunsten des AKL Stuttgart in der Leonhardskirche.

· 31. Oktober 2020, eine Gedenkfeier für Menschen, die durch Suizid verstorben sind, in der Markuskirche.

· Wie im letzten Jahr wird die verstärkte Zusammenarbeit mit dem Präventionsprojekt „Verrückt? Na und!“ an Stuttgarter Schulen fortgesetzt.



Förderung durch die Landeshauptstadt Stuttgart
Die Landeshauptstadt Stuttgart fördert den AKL seit 1989. In den Beratungen zum Doppelhaushalt 2018/2019 wurde der Beschluss gefasst, ab dem Jahr 2018 den Fördersatz für Miet- und Mietnebenkosten sowie für die Personalkostenpauschalen auf 80 % zu erhöhen.

Zudem wird eine Sachkostenpauschale in Höhe von 4.600 EUR/ Vollzeitkraft/ Jahr gewährt. Für das Jahr 2019 wurde somit ein vorläufiger Zuschuss in Höhe von 163.700 EUR bewilligt.

Diese Veränderungen entsprechen einer Angleichung an die städtische Förderung der Angebote Sozialpsychiatrische und Gerontopsychiatrische Dienste.

Fazit
· Die unverzichtbare und kompetente Arbeit des AKL in der Krisenintervention und Suizidprophylaxe ermöglicht eine Sicherstellung der psychosozialen Versorgung in der Landeshauptstadt Stuttgart.

· Aufgrund der akuten Problemlage der Klientinnen und Klienten ist es notwendig, sofort auf Anfragen nach Beratungsgesprächen reagieren zu können. Wartezeiten für die Klientinnen und Klienten bestehen aktuell nicht.

· Die Vernetzung des AKL mit anderen in diesem Feld aktiven Organisationen verläuft gut und effektiv.

· Die Stellen- und Finanzausstattung ist im Verhältnis zur aktuellen Nachfragesituation auskömmlich.


Beteiligte Stellen

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Vorliegende Anträge/Anfragen

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Dr. Alexandra Sußmann
Bürgermeisterin





1. Arbeitskreis Leben Stuttgart e. V., Fallbeispiele 2019/2020
2. Statistik des Arbeitskreises Leben Stuttgart e. V., Stand 2019


Arbeitskreis Leben Stuttgart e. V.
Fallbeispiele 2019/2020

1. Mann, Mitte 60, in einer suizidalen Lebenskrise

Klient Herr B., alleinstehend, Mitte 60, kommt auf Anraten eines Bekannten zum AKL. Er ist ein ruhiger, kulturell interessierter Mann, der seit wenigen Wochen im Ruhestand ist. Diese Veränderung ist nicht einfach für ihn, da er seine sozialen Kontakte bisher über berufliche Bezüge gepflegt hat. Diese sind nun weggebrochen. Da seine Rente klein ist, kann er auch nur ausgewählt kulturelle Interessen pflegen und seine Sorge ist groß, dass er verarmen könnte. Freude bereitet ihm derzeit nur das Gärtnern in seinem kleinen Garten. Liebevoll pflegt er seine Blumen- und Gemüsebeete.

In dieser brüchigen Phase der Lebensveränderung hat ihn nun ganz aktuell die Kündigung seiner Wohnung wegen Eigenbedarf erreicht, in der er seit 35 Jahren lebt. Er hat 6 Monate Zeit, eine neue Wohnung zu suchen. Diese Nachricht zieht ihm den Boden unter den Füßen weg und stürzt ihn in eine schwere Krise mit starken Existenzängsten und sehr konkreten Suizidgedanken. Er erlebt sich in einer völligen Überforderung, Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit. Er kennt niemanden, mit dem er über die Situation sprechen könnte oder der ihn unterstützen könnte. In diesem Zustand kommt er zum AKL.

Er interessiert sich für die Unterstützung durch einen ehrenamtlichen Krisenbegleiter und sucht Hilfe, um mit seinen Ängsten und Blockaden bezogen auf die Wohnungssuche umgehen zu können. Vereinbart werden mit ihm Entlastungsgespräche als Krisenintervention, in denen ihm die Zusammenhänge seiner Ängste deutlich werden. Als praktische Hilfe bei der Wohnungssuche (z. B. fehlen ihm Computerkenntnisse, um digital auf Wohnungssuche zu gehen) und als Gesprächspartner findet eine Vermittlung an einen ehrenamtlichen Krisenbegleiter statt.

Außerdem sucht er einen Facharzt auf, um sich bezogen auf die depressiven Zustände medikamentös unterstützen zu lassen und er knüpft Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe, um sein soziales Netz zu vergrößern. Es folgen Wochen, in denen langsam Hoffnung in ihm wächst, dass sich die Dinge gut entwickeln könnten, abwechselnd mit emotionalen Einbrüchen, Einsamkeitsgefühlen und Existenzängsten. Vor allem als der Druck der Wohnungssuche steigt, wird es nochmal ganz eng in seinem Erleben und die Suizidgedanken verstärken sich erneut. Nun geht es darum, Druck herauszunehmen. Zuerst die Ängste besser zu verstehen, bevor die Wohnungssuche vorangetrieben werden kann.

Während dieser Zeit hilft ihm der Blick auf biografische Aspekte, die ihm seine Stress- und Angstmuster verdeutlichen. Er gewinnt zunehmend Verständnis für sein Erleben. Sehr stabilisierend ist die ganz engmaschige, kontinuierliche und sehr praktische Unterstützung durch den ehrenamtlichen Krisenbegleiter, der mit ihm die Wohnungssuche anpackt und ihn bei Wohnungsbesichtigungen begleitet, um ihm Sicherheit und Rückenstärkung zu geben.

Ihm gelingt es immer besser, in seinem Bekanntenkreis offen über seine Situation zu sprechen. Das hat eine sehr entlastende Wirkung. Als er dann tatsächlich innerhalb der 6 Monate bis zur Wohnungskündigung eine neue Wohnung mit kleinem Garten findet, ist seine Erleichterung groß. Im Rückblick versteht er diese Krise als einen wichtigen Entwicklungsschritt ins Rentnerdasein. Heute kann er sein Leben wieder genießen, zumal er sich in seiner neuen Wohnung sehr wohlfühlt, er neue soziale Kontakte gefunden hat und sich im Umgang mit anderen Menschen authentischer erlebt als jemals zuvor.

2. Junge trauernde Frau, 35 Jahre

Frau B. nahm den Kontakt zum AKL auf, nachdem ihre jüngere Schwester sich für alle völlig unvorhersehbar das Leben genommen hat. Sie war an einer schweren Depression erkrankt, wollte aber trotzdem ein Kind bekommen. Sie setzte unter ärztlicher Kontrolle ihre Medikamente ab. Dadurch verschlechterte sich ihr Zustand in kurzer Zeit rapide und wenige Wochen später starb sie durch Suizid. Für die Eltern und die einzige Schwester, Frau B., war ihr Tod ein Schock. Überwältigt von nicht regulierbaren Gefühlen des Schmerzes und Verlustes kam Frau B. zwei Monate nach dem Tod der Schwester zum AKL. Sie wurde von den Krisendiensten, die der Familie die Todesnachricht überbracht hatten, auf den AKL hingewiesen.

Frau B. ist eine junge, beruflich sehr erfolgreiche Frau, die mit ihrem Partner zusammenlebt und bis zum Tod ihrer Schwester ein sehr ausgefülltes Leben hatte. Sie hatte ihr Leben gut im Griff, war sehr leistungsbereit und voller Energie. Der Suizid der Schwester zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Seither erlebt sie wiederholt emotionale Einbrüche, oft ausgelöst durch Alltagsbemerkungen anderer Menschen. Wenn z. B. jemand aus dem Bekannten- oder Freundeskreis von Kontakten mit der eigenen Schwester berichtet, ist es möglich, dass eine Welle des Schmerzes über sie hereinbricht, die sie nicht kontrollieren oder steuern kann. Dann versagt ihre Stimme oder ein Weinkrampf überfällt sie, oder sie versteinert und kann niemandem zeigen, was innerlich mit ihr los ist. Kontrolle zu haben, die eigenen Emotionen im Griff zu haben sind wichtige Aspekte für sie, um sich unter anderen Menschen wohl zu fühlen. Darum hat sie seit dem Tod der Schwester ihre sozialen Kontakte sehr reduziert. Sie nimmt wahr, dass sie Rückzug braucht, um sich selbst zu spüren und gut versorgen zu können. Und auch um Raum für ihre Trauer zu haben und die Erinnerungen an ihre Schwester zu pflegen.

Da ihre Arbeit jedoch viel Zeit und Raum fordert, oft große Projekte unter Zeitdruck zu erledigen sind und heftige Emotionen darin keinen Platz haben, kann sie sich diesen Raum nicht nehmen. Ihre Arbeit stellt einen großen Teil ihrer Identität dar, darum ist ein Kürzertreten bei der Arbeit für sie auch nicht vorstellbar. Diese Spannung führt zu einem seltsamen Entfremdungserleben mit einem Wechsel zwischen Gefühllosigkeit und emotionaler Überwältigung.

Zu ihren Eltern pflegt sie einen regelmäßigen Kontakt. Alle drei gehen auf ähnliche Weise mit ihrer Trauer um. Sie versuchen mit großer Tapferkeit weiterzumachen und füreinander da zu sein. Gespräche über die verstorbene Schwester werden kaum geführt, um vermeintlich nicht in der Wunde des Schmerzes zu rühren. Frau B. berichtet eher von einem Zustand der Sprachlosigkeit untereinander. Und wenn dann doch über die Schwester gesprochen wird, z. B. um zu entscheiden, wie der erste Jahrestag des Todes begangen werden soll, wirkt das seltsam unecht und surreal auf sie.

Frau B.‘s Erleben kann als stressbedingte Trauer- und Belastungsreaktion nach einer traumatisierenden Erfahrung verstanden werden. Beim AKL führt Frau B. Einzelgespräche. Hier ist ein Ort, an dem sie ihrer Trauer Raum geben kann, sich selbst spüren kann und die heftigen Gefühle durch einen haltgebenden Rahmen aushalten kann. Das hat eine tröstliche und heilsame Wirkung.

Anlage 2 zu GRDrs 210/2020


Statistik des Arbeitskreises Leben Stuttgart e. V., Stand 2019

Im Jahr 2019 haben insgesamt 493 Menschen den Kontakt zum AKL Stuttgart e. V.
gesucht.
Daraus ergaben sich 218 längere Beratungen/Begleitungen und 275 kurze Kontakte.


· Anfragen nach Gruppen (bezogen auf 218 längere Beratungen)
Gesamt
%
Betroffene
%
Angehörige
%
Hinterbliebene
%
Betroffene
51,4
100,0
0,0
0,0
Angehörige
15,6
0,0
100,0
0,0
Hinterbliebene
33,0
0,0
0,0
100,0
Altersstruktur
bis 10 Jahre
0,5
0,0
0,0
1,4
11 - 15 Jahre
0,9
0,0
0,0
2,8
16 - 20 Jahre
6,0
8,9
0,0
4,2
21 - 25 Jahre
11,9
14,3
14,7
6,9
26 - 30 Jahre
10,1
8,0
14,7
11,1
31 - 40 Jahre
20,6
25,9
11,8
16,7
41 - 50 Jahre
20,2
17,9
32,3
18,1
51 - 60 Jahre
16,5
11,6
20,6
22,1
61 - 70 Jahre
9,2
8,9
5,9
11,1
71 - 80 Jahre
3,2
2,7
0,0
5,6
81 - 90 Jahre
0,9
1,8
0,0
0,0

· Soziodemografische Daten Klientinnen und Klienten (bezogen auf 218 längere Beratungen)
Geschlechtmännlich 33,5 %weiblich 66,5 %
Alter13 - 30 Jahre
29,4
%
31 - 60 Jahre
57,3
%
61 und älter
13,3
%
Nationalität
(Mehrfachnennung)
deutsch
88,1 %
nicht deutsch
11,9 %
deutsch mit
Migrationshintergrund
12,9 %
Partner-statusalleinstehend
57,4 %
in Partnerschaft lebend
38,5 %
getrennt lebend
4,1 %
Berufliche Situationberufstätig
55,1 %
arbeitslos
7,3 %
in Ausbildung
19,3 %
Sonstige
18,3 %


· Soziodemografische Daten Ehrenamtliche
    Gesamtzahl 39
%
    Weiblich
71,8
    Männlich
28,2
    25 - 30 Jahre
3
    31 - 40 Jahre
6
    41 - 50 Jahre
3
    51 - 60 Jahre
9
    61 - 70 Jahre
15
    über 70 Jahre
3



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