Protokoll: Sozial- und Gesundheitsausschuss des Gemeinderats der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
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VerhandlungDrucksache:
GZ:
Sitzungstermin: 28.09.2020
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: BMin Dr. Sußmann
Berichterstattung:Frau Holzinger (Verein für Berliner Stadtmission)
Protokollführung: Herr Krasovskij
Betreff: "Housing First" Berlin - Vorstellung des Projekts
- Antrag Nr. 25/2020 v. 06.02.2020 (90/GRÜNE, Die
FrAKTION LINKE SÖS PIRATEN Tierschutzpartei)
- mündlicher Bericht -

Der im Betreff genannte Antrag ist dem Originalprotokoll sowie dem Protokollexemplar für die Hauptaktei beigefügt.

Die zu diesem Tagesordnungspunkt gezeigte Präsentation ist dem Protokoll als Dateianhang hinterlegt. Aus Datenschutzgründen wird sie nicht im Internet veröffentlicht. Dem Originalprotokoll und dem Protokollexemplar für die Hauptaktei ist sie in Papierform angehängt.

Einleitend erklärt BMin Dr. Sußmann, dass dieser Tagesordnungspunkt auf den Antrag Nr. 25/2020 (90/GRÜNE, FrAKTION) zurückgehe.

Nach einigen Erläuterungen der Antragsteller im Sinne des Antrags erklärt die Vorsitzende gegenüber StRin Nuber-Schöllhammer (90/GRÜNE) und StR Adler (Die FrAKTION LINKE SÖS PIRATEN Tierschutzpartei), dass die beantragte Schwerpunktsitzung zum Thema Wohnungslosigkeit/Wohnungslosenhilfe im Rahmen der Sitzung des Sozial- und Gesundheitsausschusses am 14.12.2020 stattfinden wird. Ergänzend berichtet Frau Vogel (SozA), dass im Zuge der Schwerpunktsitzung das Hilfesystem in Stuttgart möglichst umfassend betrachtet werden solle und auch die Erkenntnisse aus dem heutigen Vortrag mit einfließen werden. Zur Schwerpunktsitzung werde die Sozialverwaltung auch eine Rahmendrucksache vorlegen, da u. a. einige bestimmte Ansatzpunkte im Rahmen des Hilfesystems in Anbetracht der Entwicklung der Bedarfe und des aktuellen Wohnungsmarktes angepasst werden müssten. Hierzu befinde sich die Verwaltung in einem engen Austausch mit den Trägern der Wohnungsnotfallhilfe.

Im Anschluss berichtet Frau Holzinger (Verein für Berliner Stadtmission) den Ratsmitgliedern ausführlich analog der Präsentation über das Konzept, die Ziele und die Erfahrungswerte aus dem Modelprojekt "Housing First" Berlin - einem Ansatz, um langzeit-wohnungslose Menschen wieder in Wohnraum (mit einem unbefristeten Mietvertrag) zu vermitteln, damit so eine Basis geschaffen wird, um mittel- und langfristig die persönliche, materielle und gesundheitliche Situation dieser Menschen nachhaltig zu verbessern.

Bisher konnten im Rahmen des Projektes bei über 400 Anfragen 34 Personen in eine eigene Wohnung vermittelt werden. Aktuell stünden 12 Wohnungslose auf der Warteliste für eine Wohnung. Über 90 % der Projektteilnehmer/-innen seien seit drei Jahren
oder länger obdachlos. Im Rahmen der Projektevaluation habe sich gezeigt, dass sich das persönliche Wohlbefinden der Teilnehmer/-innen sowie u. a. deren materielle Situation (bspw. durch Arbeit oder Ausbildung) nach dem Einzug in eine eigene Wohnung verbessert hätten. Eher unverändert geblieben seien dagegen ihre gesundheitliche Situation (Drogenkonsum etc.) sowie das Umfeld ihrer Sozialkontakte. Viele Projektteilnehmende würden zudem die Einsamkeit in einer eigenen zumeist Einzimmerwohnung als große Herausforderung beschreiben. Darauf eingehend stellt StRin
Ciblis (90/GRÜ-NE) die Frage, ob gegen die Vereinsamung Wohngemeinschaften eine Abhilfe leisten könnten.

Die Referentin fährt fort und berichtet, dass die Mitarbeiter/-innen des Projektes u. a. die Organisation der Interprofessionalität bei der Betreuung der Teilnehmer/-innen als herausfordernd empfunden hätten. Zudem sei der Wunsch nach einer psychiatrischen Expertise geäußert worden, da viele Projektteilnehmende auch mit Problemen psychischer Art zu kämpfen hätten. Frau Holzinger weist abschließend darauf hin, dass die umfassende Evaluation zu dem Projekt "Housing First" Berlin auf der Webseite www.housingfirstberlin.de nachgelesen werden könne.

Im Verlauf der folgenden Aussprache werden das vorgestellte Projekt, die Herangehensweise und die dadurch erzielten Erfolge ausdrücklich von StRin Nuber-Schöll-hammer, StR Mörseburg (CDU), StR Adler und StRin Dr. Hackl (SPD) begrüßt. Die Ratsmitglieder machen in ihren Wortmeldungen deutlich, dass das Konzept von "Housing First" auch in Stuttgart für das System der Wohnungsnotfallhilfe in Erwägung gezogen werden sollte.

Zu Fragen von StRin Nuber-Schöllhammer erläutert Frau Holzinger, die Aufnahme in das Projekt erfolge nach einer direkten Bewerbung der wohnungslosen Menschen bzw. nach einer Vermittlung durch Helfer/-innen oder Sozialarbeiter/-innen. Das Projektteam arbeite selbst aufgrund der personellen Ressourcen nicht aufsuchend, kooperiere aber eng mit Sozialarbeitern/-innen. In der Regel würden vor der Aufnahme zwei Gespräche mit den Bewerbern/-innen am Bürostandort von "Housing First" Berlin geführt, um zu klären, ob die Menschen tatsächlich zur Zielgruppe gehörten und eine Bereitschaft bestehe, weg von der Straße und in eine eigene Wohnung zu ziehen (manche Bewerber/
-innen seien diesbezüglich durchaus ambivalent). Bei Aufnahme in das Projekt könnten die Menschen in der Regel nach drei bis sechs Wochen in eine Wohnung vermittelt werden und würden dann dort weiter betreut. Erfreulicherweise, so die Referentin, könne die Wohnungsakquise erfolgreich gestaltet werden, und dem Projektteam würden viele Wohnungen angeboten.


Die den Teilnehmern/-innen zur Verfügung gestellten Wohnungen seien zu einem Großteil Einzimmerwohnungen, manchmal auch Zweizimmerwohnungen für Paare. Mitunter hätten die Projektverantwortlichen feststellen müssen, dass in eine Einzimmerwohnung der/die Partner/in mit eingezogen ist. In solchen Fällen habe man versucht, für beide eine größere Wohnung zu finden, falls sich das Zusammenleben bewährte.

Hinsichtlich des Personalbedarfs (derzeit sind es rund 5,6 Vollzeitstellen) habe man sich bei Projektbeginn an der geplanten Anzahl von 40 Personen orientiert, die man im Zuge der Laufzeit in Wohnraum vermitteln wollte. Zum Team gehörten heute mit verschiedenen Stellenanteilen eine Projektleitung, eine Stelle für Fundraising und Wohnungsakquise, Sozialarbeiter/-innen, Sozialhelfer/-innen und ein Peer-Worker. Die Anstellung einer Psychologin/eines Psychologen sei geplant. Als besonders gewinnbringend habe sich die Mitarbeit eines Peergroup-Mitglieds erwiesen, der aufgrund seiner eigenen Erfahrungen einen besonderen Zugang zur Zielgruppe habe.

An StR Mörseburg, der sich nach den negativen Erfahrungen aus der Projektarbeit erkundigt hatte, gewandt erklärt Frau Holzinger, das wichtigste Ziel des "Housing First"-Ansatzes sei es, obdachlose Menschen langfristig in Wohnraum zu vermitteln. Deswegen werde es seitens der Projektverantwortlichen zunächst einmal nicht als negativ bewertet, wenn die Wohnung von den Teilnehmern bspw. nur zum Schlafen benutzt werde, sie aber tagsüber weiterhin nicht drogenabstinent leben könnten oder wenn der Kontakt zu den Teilnehmenden vorübergehend abbreche, solange sie die Wohnung behalten. Zweimal sei es bereits vorgekommen, dass ein Nutzer die vermittelte Wohnung wieder verlassen habe (allerdings ohne einen Schaden in der Wohnung anzurichten), weil er mit den dortigen Rahmenbedingungen nicht einverstanden gewesen sei.

Im Vergleich zu den üblichen Angeboten der Wohnungsnotfallhilfe, bspw. der Unterbringung wohnungsloser Menschen in Notunterkünften mit Mehrbettzimmern, Gemeinschaftsdusche etc., habe man bei "Housing First" Berlin die Erfahrung gemacht, dass durch einen eigenen Wohnraum, der zum sicheren Rückzugsraum werden solle, viele Probleme und Streitigkeiten, die aufgrund der Enge in den Notunterkünften entstehen können, entschärft bzw. vermieden würden.

Zu weiteren Fragen des Stadtrats berichtet die Referentin, dass die vermittelten Wohnungen in der überwiegenden Zahl durch Wohnungsbaugesellschaften zur Verfügung gestellt würden. Es gebe zwar auch einige private Vermieter, jedoch sei man da etwas skeptisch, da hier immer die Gefahr einer Eigenbedarfskündigung bestehe. Die Stadt Berlin selbst habe für das Projekt aufgrund des angespannten Wohnungsmarktes keine Wohnungen zur Verfügung stellen können, unterstütze die Projektarbeit jedoch mit finanziellen Zuwendungen, weshalb die Träger nahezu keinen Eigenanteil aufbringen müssen. Frau Holzinger äußert die Hoffnung, dass es seitens der Stadt Berlin künftig auch eine Hilfe bei der Wohnungsakquise geben wird, falls das Projekt "Housing First" Berlin nach Ablauf der Projektlaufzeit weiter fortgeführt werden sollte, was von politischer Seite durchaus gewünscht ist. Zudem sollte dann auch die Zahl der angebotenen Plätze im Projekt erhöht werden bei gleichen niedrigschwellige Zugangsvoraussetzungen.

Bei der Wohnungsakquise werde darauf Wert gelegt, mehrere Wohnungen möglichst nicht geballt in einem einzelnen, regulär bewohnten Wohnhaus zu finden, sondern unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche der Projektteilnehmer möglichst dezentral, um eine Häufung von Problemen an einem Ort zu verhindern. Um dies zu erreichen, würden auch weite Wege und eine Vielzahl verschiedener Sozialräume in Kauf genommen.

Auf eine Frage von StR Adler erklärt die Referentin, dass die Wohnungen eher durch private und weniger durch städtische Wohnungsbaugesellschaften zur Verfügung gestellt würden. Die genaue prozentuelle Verteilung liefere sie gerne schriftlich nach.

Im Folgenden machen Frau Vogel sowie auch Frau Reichhardt und Herr Peter (beide SozA) nach einer Frage von StR Mörseburg übereinstimmend deutlich, dass sie die Umsetzung des Konzeptes von "Housing First" im Rahmen der Stuttgarter Wohnungsnotfallhilfe begrüßen würden und es in den Bereichen der Wohnungsakquise, des Fallmanagements sowie der ambulanten Hilfe und der Sozialplanung bereits vielfältige Ansatzpunkte und Erfahrungen in Stuttgart gebe, auf denen man unter Berücksichtigung der hiesigen Rahmenbedingungen (Wohnungsmarkt, Trägerstruktur etc.) aufbauen könnte. Zustimmung gebe es nach einer ersten Abstimmung auch seitens der Träger.

Frau Vogel sagt zu, dass die Sozialverwaltung in der zur Schwerpunktsitzung angekündigten Rahmenvorlage einen mit den Trägern abgestimmten entsprechenden Vorschlag unterbreiten werde, wie der Ansatz von "Housing First" in Stuttgart künftig weiterverfolgt werden könnte. In diesem Zusammenhang weist Herr Peter auf die Wichtigkeit einer erfolgreichen Wohnungsakquise und einer zuwendungsfinanzierten Unterstützung (wie in Berlin der Fall) hin.

Frau Reichhardt sagt ferner zu, den Ratsmitgliedern weitere wissenschaftliche Artikel zum Konzept von "Housing First" schriftlich zukommen zu lassen. Gegenüber StR Mörseburg erklärt sie, dass es in Stuttgart im Rahmen der Wohnungsnotfallhilfe bisher kein Projekt gebe, das derart interprofessionell aufgestellt sei wie das Konzept von "Housing First" Berlin, wenngleich auch versucht werde, Ehrenamtliche etc. einzubinden.

Bezug nehmend auf die geplante Schwerpunktsitzung bittet StRin Dr. Hackl darum, hierzu auch Vertreter des MedMobils und anderer Unterstützungsorganisationen einzuladen. Dies wird durch BMin Dr. Sußmann zugesagt.

Nach einer Frage von StRin Dr. Hackl bezüglich der Trägerstruktur der Berliner Projektpartner erklärt Frau Holzinger, dass beide Träger eine große Erfahrung im Bereich der niedrigschwelligen (ambulanten) Wohnungsnotfallhilfe hätten. Ferner erklärt sie, dass weitere Infos bezüglich des eigenen frauenspezifischen "Housing First"-Projektes ebenfalls auf der Webseite www.housingfirstberlin.de nachgelesen werden könnten.

Bezogen auf eine mögliche Umsetzung von "Housing First" in Stuttgart regt StRin Bulle-Schmid (CDU) an, auf das Land im Hinblick auf eine Zuwendungsfinanzierung zuzugehen. Dieser Vorschlag wird durch BMin Dr. Sußmann begrüßt und zugesagt.

Danach stellt BMin Dr. Sußmann fest:

Der Sozial- und Gesundheitsausschuss hat vom Bericht Kenntnis genommen.

Zur Beurkundung


Krasovskij / pö
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