Protokoll: Gemeinderat der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
TOP:
242
3
VerhandlungDrucksache:
47/2016
GZ:
OB 7831-10.00
Sitzungstermin: 08.12.2016
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: OB Kuhn
Berichterstattung:Herr Prof. Dr. Kirchberg (Kanzlei Deubner & Kirchberg)
Protokollführung: Frau Gallmeister
Betreff: Bürgerbegehren gegen Stuttgart 21 "Storno 21"
- Abhilfeprüfung im Widerspruchsverfahren

Vorgang: Verwaltungsausschuss vom 13.04.2016, öffentlich, Nr. 92
Gemeinderat vom 14.04.2016, öffentlich, Nr. 52
Verwaltungsausschuss vom 06.07.2016, öffentlich, Nr. 259
Gemeinderat vom 07.07.2016, öffentlich, Nr. 131

jeweiliges Ergebnis: Zurückstellung

Verwaltungsausschuss vom 07.12.2016, öffentlich, Nr. 503

Ergebnis: mehrheitliche Zustimmung (14 Ja-Stimmen, 2 Gegenstimmen, 1 Stimmenthaltung)


Beratungsunterlage ist die Vorlage des Referats Recht, Sicherheit und Ordnung vom 06.04.2016, GRDrs 47/2016, mit folgendem

Beschlussantrag:

1. Den Widersprüchen, eingelegt von Herrn Peter Conradi und Frau Sabine Schmidt, gegen den Bescheid der Landeshauptstadt Stuttgart vom 29.07.2015 über die Unzulässigkeit des Bürgerbegehrens "Storno 21" gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 wird nicht abgeholfen.


2. Die Widersprüche werden dem Regierungspräsidium Stuttgart zur Entscheidung vorgelegt.

Die Verwaltung wird beauftragt, den Bevollmächtigten der Widerspruchsführer
darüber zu unterrichten, dass die Stadt den Widersprüchen nicht abgeholfen hat.



Vor Eintritt in den Tagesordnungspunkt erklärt OB Kuhn zur Verhandlungsführung, auch an StR Rockenbauch (SÖS-LINKE-PluS) gewandt, er finde es persönlich gut und es genieße seinen Respekt, wenn Gemeinderatsmitglieder für ihre Überzeugung kämpfen. Wenn aber ein Gemeinderatsmitglied sich öfter nicht an getroffene Vereinbarungen halte, werde es für ihn als Vorsitzenden schwierig, die Sitzung im Sinne des Mehrheitswunsches und der Vereinbarung zu leiten. Ihm liege an einem lockeren, eher moderativen Stil der Verhandlungsführung. Je stärker dieser strapaziert werde, desto schwieriger werde die lockere Handhabung. Die Gemeinderatsmitglieder hätten entsprechend der Geschäftsordnung selbstverständlich aber auch Rechte.

Der Vorsitzende erteilt Herrn Prof. Dr. Kirchberg zur Darlegung der Rechtsposition das Wort.

Herr Prof. Dr. Kirchberg führt aus (leicht überarbeiteter Wortlaut):

"Vielen Dank, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren. Sie haben unter Tagesordnungspunkt 1 der heutigen Gemeinderatssitzung einstimmig sich dafür entschieden, dass die Stadt Stuttgart sich gegenüber dem Ansinnen der Deutschen Bahn AG, dass die Stadt Stuttgart sich maßgeblich an den Mehrkosten beteiligt, streitig stellen will. Sie haben damit zum Ausdruck gebracht, dass die entsprechende Kostenerhöhung nach der Vertragsarchitektur der Finanzierungsvereinbarung von 2009 nicht zu einem Wandel der Verhältnisse oder zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage geführt hat, weil auch für den Fall der Kostenerhöhungen dort Regularien vorgesehen sind, die jedenfalls die Stadt Stuttgart nichts angehen. Wenn Sie jetzt, ich unterstelle den hypothetischen Fall, der Vorlage der Verwaltung nicht folgen würden, dann würden Sie sich selbst widersprechen, denn dieser Vorlage wird die Vorstellung der Initiatoren des Bürgerbegehrens, aufgrund der Kostenerhöhung läge ein Wegfall der Geschäftsgrundlage vor, ja nun gerade zugrundegelegt. Mit anderen Worten: Die Entscheidung über den Tagesordnungspunkt 3 kann eigentlich nur so lauten, wie die Entscheidung über den Tagesordnungspunkt 1. Das möchte ich als Allererstes vorwegschicken.

Und zum Zweiten: In diesem konkreten Fall ist es ja so, dass der rechtzeitig eingelegte Widerspruch noch flankiert wurde mit einem Sofortrechtsschutzverfahren beim Verwaltungsgericht Stuttgart. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat die hauptsächlichsten Einwendungen der Initiatoren des Bürgerbegehrens, die auch im Widerspruchsschreiben aufgeführt worden sind, bereits abgearbeitet und ist zu dem Ergebnis gekommen, das Bürgerbegehren sei nicht offensichtlich zulässig. Im Gegenteil, es sind mehrere Gründe dafür angeführt worden, weshalb das entsprechende Bürgerbegehren nicht zulässig ist.

Und ich fasse kurz zusammen: Erstens hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass eben zunächst einmal zu ergründen seien der Umfang und der Inhalt der Sprechklausel, der eben nur das Land verpflichtet. Das sei vollkommen offen.

Zum Zweiten hat das Verwaltungsgericht festgestellt: Selbst wenn man von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage ausginge, wäre immer noch im Einzelnen zu prüfen, in welche Risikosphäre die Mehrkosten fallen, wer dafür verantwortlich ist und wer dafür einzustehen hat. Schließlich hat das Verwaltungsgericht ausdrücklich die Auffassung der Stadt Stuttgart bestätigt, dass eine entsprechende Kostenerhöhung im Regelfall, wenn man überhaupt von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage spricht, zunächst zu Verhandlungen zu führen hat mit dem Ziel einer Vertragsanpassung, aber nicht dazu, dass man sich dann gewissermaßen sofort auf die Ultima Ratio einer Kündigung des entsprechenden Vertrages berufen kann.

Und ergänzend möchte ich noch anmerken und Ihnen in Erinnerung rufen, dass die Kostenerhöhung, die hier zum Anlass für das Bürgerbegehren gemacht worden ist, bereits zwei Jahre vor dem Antrag auf Durchführung eines Bürgerbegehrens bzw. auf Durchführung eines Bürgerentscheids von der Deutschen Bahn bzw. ein dreiviertel Jahr vom Aufsichtsrat der Deutschen Bahn gemacht worden ist. Eine solche Zeitverzögerung ist mit Sicherheit nicht zulässig, weder nach der Gemeindeordnung noch nach den allgemeinen Regeln über die Geltendmachung von Wegfall der Geschäftsgrundlage."

Zur rechtlichen Einschätzung verweist StR Kotz (CDU) auf seine Aussagen zum vorhergehenden Tagesordnungspunkt "Bürgerbegehren 'Ausstieg der Stadt Stuttgart aus S 21 aufgrund des Leistungsrückbaus durch das Projekt' - Abhilfeprüfung im Widerspruchsverfahren" (vgl. NNr. 241). Seine Fraktion werde deshalb auch der GRDrs 47/2016 zustimmen.

Gegenüber StR Rockenbauch hält es StR Kotz für angebracht, sich bei der Diskussion über die Vorlage, die "Storno 21" im Betreff hat, mit der Realität zu beschäftigen. All diejenigen, die sich mit dem Umfang und dem Baufortschritt des Projekts Stuttgart 21 beschäftigten, könnten nicht mehr zur Einschätzung gelangen, dass dieses Projekt noch gestoppt werden könne. Dies habe auch die Besichtigung des Tunnelbauwerks letzte Woche ergeben, an der kein Vertreter der Fraktionsgemeinschaft SÖS-LINKE-PluS teilgenommen habe.

StRin Deparnay-Grunenberg (90/GRÜNE) bemerkt, dem juristischen Sachverhalt, den die Vorlage darlege, könne ihre Fraktion folgen. Bereits bei der seinerzeitigen Beratung sei sie der Begründung der Verwaltung, dass es keine grundlegend neue Sachlage gebe, gefolgt; dies würde ihre Fraktion auch heute tun.

Die von StR Kotz beim vorherigen Tagesordnungspunkt (NNr. 241) für seine Fraktion angesprochene Überlegung, dass der Gemeinderat in seinem Wirkungskreis selber einen Bürgerentscheid initiieren könnte, hält die Stadträtin für eine "sehr bemerkenswerte Vorgehensweise", da der Gemeinderat in seinem Wirkungskreis doch selber entscheiden könne. StR Körner (SPD) sieht dies etwas anders. Seiner Meinung nach könnte der Gemeinderat durchaus, insbesondere wenn es sich um ein bedeutendes politisches Thema handle, von sich aus sagen, dass er das Thema den Bürgerinnen und Bürgern zur direkten Entscheidung vorlegen wolle.

Zur Vorlage habe er die Ausführungen von Herrn Dr. Porsch (Kanzlei Dolde Mayen und Partner) in der gestrigen Sitzung des Verwaltungsausschusses als sehr eindrücklich und klar empfunden, fährt StR Körner fort. Er weist hierzu nochmals auf zwei Punkte hin. Erstens sei der Wegfall der Geschäftsgrundlage schon deshalb eher skeptisch zu sehen, weil die Mehrkosten im Vertrag geregelt seien, zwar vielleicht ungenügend, aber mit der Sprechklausel bearbeitet. Weiter sei erläutert worden, dass es sich um eine außerordentlich gut verhandelte Regelung handle. Weiter habe Herr Dr. Porsch ausgeführt, dass, selbst wenn man diese Auffassung nicht teile, das Recht vorsehe, dass man als Stadt erst einmal über eine Anpassung des Vertrags mit der Bahn sprechen müsse. Aufgrund der Argumentation von Herrn Dr. Porsch in der gestrigen Verwaltungsausschusssitzung und aufgrund der Argumente, die Herr Prof. Dr. Kirchberg heute nochmals erwähnt habe, werde die SPD-Gemeinderatsfraktion der GRDrs 47/2016 zustimmen, kündigt StR Körner an.

StR Rockenbauch (SÖS-LINKE-PluS) erklärt, seine Fraktionsgemeinschaft bleibe dabei, dass einem Projekt, das wie Stuttgart 21 einen Leistungsrückbau darstelle und mit einer Kostenexplosion, die weit über die jetzt von der Deutschen Bahn AG angekündigten 6,5 Mrd. € hinausgehen werde, die Geschäftsgrundlage fehle. Es seien weder der Nutzen noch die Kosten für dieses Projekt gegeben, und dies seien die elementaren Bestandteile eines Projektes. Bei dieser komplizierten Konstruktion an Vertragspartnern sei es "etwas sehr spitzfindig", die einzelnen Rollen auseinanderzudividieren, sondern es säßen alle als Vertragspartner bei der Finanzierungsvereinbarung "in einem Boot". Die Stadt Stuttgart gebe eben keinen Fixkostenzuschuss für ihre Vorteile, die sie sich bei Städtebau und Verkehr fälschlicherweise verspreche, sondern sie habe sich bereits damals an den Risikokosten beteiligt. Dies hätte sie nicht tun müssen, wenn es nur um städtebauliche Vorteile gehe.

Deswegen leite die Bahn mit einigem Recht aus diesem Tatbestand ab, dass die Stadt, wenn sie schon beim Risiko dabei war, auch in Zukunft dabei sein müsse. Er meine deshalb, dass alle Erklärungen von Herrn Dr. Porsch am Ende nicht helfen werden, wenn der Gemeinderat jetzt nicht klar feststelle, dass die Geschäftsgrundlage entfallen ist. Die Nachverhandlungen, die jetzt geführt würden, seien unzumutbar für die Stadt, da sie ihre Vorteile, sollte es sie geben, bereits mehrfach bezahlt habe, nämlich durch den Grundstückserwerb mit 460 Mio. € im Jahr 2002 und durch ihren Zinsverzicht von mehr als 200 Mio. €. Das Projekt wäre, nachdem bekannt sei, dass die 6,5 Mrd. € nicht reichen werden, ein Fass ohne Boden für die Landeshauptstadt. Das Projekt im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu verändern, gerade bei Brandschutz und Sicherheit, werde sich die Bahn AG teuer bezahlen lassen. Hinsichtlich der Nachverhandlungen mit der Bahn AG sei nirgendwo festgehalten, dass nur das Land die Verhandlungen mit der Bahn AG führen könne. Spätestens bei den Nachverhandlungen, die die Bahn auch gerichtlich erzwingen wolle, sei die Stadt voll mit dabei. Die Argumentation von Herrn Prof. Dr. Kirchberg werde am Ende sehr teuer für die Landeshauptstadt.

Am Ende seiner Wortmeldung erinnert StR Rockenbauch an seine Begründung für das Abstimmungsverhalten seiner Fraktion beim TOP 1 "S 21 - Vorgehen der Landeshauptstadt Stuttgart hinsichtlich angekündigter Ansprüche der DB AG auf zusätzliche Finanzierungsbeiträge" (vgl. NNr. 240) - Geschäftsgrundlage entfallen, Nachverhandlungen nicht zumutbar. Es sei aber nicht die logische Konsequenz aus TOP 1, dass das im jetzigen Tagesordnungspunkt diskutierte Bürgerbegehren abgelehnt werden müsse.

Seine vorherigen Ausführungen hätten auch bei diesem Tagesordnungspunkt Gültigkeit, bemerkt StR Zeeb (FW) - vgl. NNr. 241. Im Übrigen äußert er sich - wie bereits StR Kotz - kritisch dazu, dass bei der kürzlich stattgefundenen Baustellenführung kein Gemeinderatsmitglied der Fraktionsgemeinschaft SÖS-LINKE-PluS teilgenommen hat.

Auch StR Prof. Dr. Maier (AfD) verweist auf seine Ausführungen beim vorherigen Tagesordnungspunkt (vgl. NNr. 241). Er unterstreicht nochmals seine Aussagen zur Legitimität und zur Wünschbarkeit von Bürgerbegehren allgemein und dieses Bürgerbegehrens im Besonderen. Gleichzeitig kündigt er an, dass sich seine Fraktion bei der Abstimmung der Stimme enthalten wird.

StR Dr. Oechsner (FDP) merkt an, für die FDP-Gemeinderatsmitglieder gelte das Gleiche wie beim vorherigen Tagesordnungspunkt; sie sind der Meinung, dass die Vorlage und die Ablehnung rechtlich in Ordnung gehen, weshalb sie der GRDrs 47/2016 zustimmen werden.

Die STAdTISTEN hielten Bürgerbegehren grundsätzlich für gut, weshalb er auch dafür sei, dass das Bürgerbegehren "Storno 21" zugelassen wird, erklärt StR Dr. Schertlen (STd).

An die StRe Kotz und Zeeb gewandt weist StR Rockenbauch darauf hin, dass seine Fraktionsgemeinschaft ihre Beurteilung des Projekts Stuttgart 21 durch Expertisen vieler Experten gewonnen habe. Jetzt zu meinen, dass sich diese Kritik durch eine Tunnelbesichtigung erledigen würde, sei weltfremd. Der Stadtrat äußert sich kritisch zum Umgang mit ihm und den Argumenten, die seine Fraktionsgemeinschaft seit Beginn des Projektes vorbringe. Die Argumente würden nicht ernsthaft geprüft; Herr Prof. Dr. Kirchberg sei in seinen Gutachten an keinem Punkt auf die Einwände seiner Fraktionsgemeinschaft eingegangen, die sie nach der ersten Ablehnung vorgebracht habe.

Der Vorsitzende macht darauf aufmerksam, dass Herr Prof. Dr. Kirchberg den Auftrag hatte zu überprüfen, ob das Bürgerbegehren rechtlich zulässig ist oder nicht, und er habe mit seinen Argumenten diese Frage beantwortet. Dieses Gutachten habe den Gemeinderat im letzten Jahr auch überzeugt und er habe mit großer Mehrheit das Bürgerbegehren für nicht zulässig gehalten.


Abschließend stellt OB Kuhn stellt fest:

Der Gemeinderat beschließt die GRDrs 47/2016 mit 40 Ja-Stimmen bei 9 Gegenstimmen und 6 Enthaltungen mehrheitlich wie beantragt.

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