Protokoll: Verwaltungsausschuss des Gemeinderats der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
TOP:
111
1
VerhandlungDrucksache:
591/2016 Neufassung
GZ:
0322-00
Sitzungstermin: 05.04.2017
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: OB Kuhn
Berichterstattung:der Vorsitzende
Protokollführung: Frau Faßnacht fr
Betreff: Leitlinie für Bürgerbeteiligung in der Landeshauptstadt Stuttgart

Vorgang: Verwaltungsausschuss vom 15.03.2017, öffentlich, Nr. 50

Gemeinderat vom 16.03.2017, öffentlich, Nr. 23

jeweiliges Ergebnis: Zurückstellung

Beratungsunterlage ist die Vorlage des Herrn Oberbürgermeisters vom 28.02.2017, GRDrs 591/2016 Neufassung, mit folgendem

Beschlussantrag:

1. Der Gemeinderat beschließt die sich im Anhang befindliche "Leitlinie für Bürgerbeteiligung in der Landeshauptstadt Stuttgart". Sie tritt zum 01.07.2017 in Kraft.

2. Der Gemeinderat beschließt die Konstituierung eines Beteiligungsbeirats und beauftragt die Verwaltung, alle notwendigen Schritte einzuleiten.

3. Der Gemeinderat beauftragt die Verwaltung, die notwendigen Schritte zur Umsetzung der "Leitlinie für Bürgerbeteiligung in der Landeshauptstadt Stuttgart" einzuleiten. Dies gilt insbesondere für die Einführung des neuen Instruments der Vorhabenliste.


4. Der Gemeinderat beauftragt die Verwaltung, nach einer zweijährigen Erprobungsphase die Leitlinie zu überprüfen.


Die Beratungsunterlage ist dem Originalprotokoll sowie dem Protokollexemplar für die Hauptaktei beigefügt.


Der Vorsitzende freut sich, die Leitlinie für Bürgerbeteiligung in der Landeshauptstadt Stuttgart nunmehr im Verwaltungsausschuss beraten und in der morgigen Sitzung des Gemeinderats eine Beschlussfassung herbeiführen zu können. Sehr herzlich dankt er der Verwaltung und den Fraktionen, die an der Erarbeitung des Konzepts mitgewirkt haben. Durch die Verzögerung, die dem intensiven Beratungsbedarf der Fraktionen geschuldet war, könne die Leitlinie erst später als vorgesehen in Kraft treten.

Die Leitlinie gebe einen Überblick über die informelle Bürgerbeteiligung, d. h. solchen, wo es keine gesetzliche Grundlage gibt, und man als Verwaltung nach dem Gesetz nicht gezwungen ist, eine Bürgerbeteiligung durchzuführen, "dies aber gerne machen will, weil es darauf ankommt, die Wünsche der Bürger, die Experten und Expertinnen des Alltags sind, rechtzeitig in das Handeln der Stadt - sowohl als Verwaltung wie auch, was die politischen Entscheidungen des Hauptorgans angeht, einzubeziehen". Die Vorlage beschreibe, wie es in Stuttgart zu Bürgerbeteiligungen im Sinne von informellen Bürgerbeteiligungen kommen kann, wer entscheidet und wer die Zuständigkeit hat. Diese habe immer der Gemeinderat, der Oberbürgermeister bei Themen, die ihn betreffen, doch auch aus den Stadtbezirken können Themen vorgeschlagen werden. Weiter brauche es mindestens 1.000 Bürgerinnen und Bürger, um eine informelle Bürgerbeteiligung zu initiieren.

Nach seiner Überzeugung wird durch gut gemachte Bürgerbeteiligungen die städtische Demokratie aufgewertet und die Entscheidungen des Rats und der Verwaltung können qualifizierter werden. Hierfür brauche es ein klares Regelwerk. Dazu gehöre beispielsweise, dass die Verwaltung nicht zu viele solcher Bürgerbeteiligungen gleichzeitig durchführt, und dass sie die Methodik verbessert im Sinne einer aufsuchenden Bürgerbeteiligung als festes Kernelement. Damit ermögliche man es, dass auch Menschen mit geringeren Zeitbudgets in solche Prozesse einbezogen werden können.

Zur Frage von Bürgerbegehren merkt er an, diese gehören zur Kategorie der formellen Bürgerbeteiligung mit einer gesetzlichen Grundlage in der Gemeindeordnung. Mit Blick auf eine Bürgerbeteiligung zum Thema "Innenstadt autofrei", die momentan insbesondere von SÖS-LINKE-PluS öffentlich diskutiert worden ist, erinnert er an die übereinstimmende Meinung im Kreis der Fraktionsvorsitzenden am 20.12.2016. Demnach wäre es eigentlich schön, wenn man es einmal mit einem Bürgerbegehren zu tun hätte, das nicht an rechtlichen Problemen scheitert. Am 09.02.2017 habe man dies nochmals bekräftigt und insofern präzisiert, als die Stadt keine Rechtsberatung machen kann im Sinne allgemeiner Rechtsberatung zu einem Bürgerbegehren, das zu einem Entscheid kommen soll, weil die Verwaltung selber letztlich die Instanz ist, die beurteilen muss, ob das Bürgerbegehren rechtsmäßig ist.

In § 21 Abs. 3 der Gemeindeordnung werde klar festgestellt "dass das Bürgerbegehren die zur Entscheidung zu bringende Frage, eine Begründung und einen nach den gesetzlichen Stimmen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten muss. Die Gemeinde erteilt zur Erstellung des Kostendeckungsvorschlags Auskünfte zur Sach- und Rechtslage".

BM Dr. Mayer verweist auf die Zeitläufe und bestätigt, aufgrund der zeitlichen Verzögerung könne die Leitlinie nicht wie ursprünglich vorgesehen zum 01.07.2017 in Kraft treten, sondern erst zum 01.10.2017. Die Verwaltung habe nach der Beschlussfassung noch viel Arbeit zu leisten: So gelte es eine Geschäftsanweisung zu erarbeiten zur Festlegung der verwaltungsinternen Zuständigkeiten und Abläufe, daneben müsse das Beteiligungsportal dahingehend umprogrammiert werden, als ein neuer Bereich geschaffen wird speziell für die informelle Bürgerbeteiligung. Dort werde die Vorhabenliste zu sehen sein, welche ein Kernstück des neuen Beteiligungssystems sei. Um die Vorhabenliste mit Leben zu füllen, bedürfe es umfangreicher Abfragen in den einzelnen Referaten und Ämtern, was dort gerade läuft. Weiter müsse die Geschäftsstelle des Beteiligungsbeirats, die sog. Koordinierungsstelle, eingesetzt werden, gleichzeitig eine Kommunikationsstrategie erarbeitet werden und der Beteiligungsbeirat müsse besetzt werden.

Für die einführenden Worte danken alle nachfolgenden Rednerinnen und Redner seitens des Ausschusses.

StR Kotz (CDU) teilt die Freude über die anstehende Beschlussfassung. Er sieht darin die Botschaft: "Der Gemeinderat freut sich und begrüßt es, wenn es mehr Bürgerbeteiligung gibt". Man wolle dieses Instrument wahrnehmen und wo dies möglich ist aktiv unterstützen. Dazu gehöre auch, dass die jeweilige Bürgerbeteiligung eine gewisse Breite der Bürgerschaft darstellt insofern, als nicht ein paar Einzelmeinungen etwas in eine Richtung formen. Es gehe daher auch darum, diejenigen zu erreichen, die vielleicht noch nicht motiviert sind, deren Input jedoch als Experten des Alltags genauso wichtig ist wie die Stimmen, die sehr häufig und sehr intensiv sich mit manchen Themen beschäftigen. Man müsse sich außerdem bewusst sein, dass dieses Instrument nicht nur für die Verwaltung ein Mehraufwand sein wird, sondern auch für den Rat. Die Bürger erwarten angesichts der abschließenden Entscheidung durch den Gemeinderat auch, dass dessen Mitglieder sehr intensiv an solchen Bürgerbeteiligungen präsent sind. Dies wiederum sei mit einem höheren Zeitaufwand für den Rat verbunden. Daher sei es richtig, gemäß der Beschlussantragsziffer 4 nach zwei Jahren die Möglichkeit zu haben, ggfs. nachzusteuern.

Abschließend bittet er darum, die Überschrift der Gemeinderatsdrucksache 591/2016 Neufassung und die Beschlussantragsziffer 1 derselben anzupassen entsprechend dem Titel der Anlage 1 - Leitlinie für informelle Bürgerbeteiligung in der Landeshauptstadt Stuttgart -.

Nach dem Eindruck von StRin Deparnay-Grunenberg (90/GRÜNE) hat der Rat vor lauter Beschäftigung mit diesem Thema noch gar nicht bemerkt, wie wichtig es ist, das Instrument der informellen Bürgerbeteiligung zu etablieren. In Zeiten des Unmutes und der zunehmenden Politikverdrossenheit und verschiedener Populismen müsse man sich bemühen, mehr in den Dialog mit der Bürgerschaft zu gehen, zur Partizipation einzuladen und miteinander die Komplexität der Gesellschaft gemeinsam lernen.

Ihre Fraktion habe bereits vor gut fünf Jahren einen Antrag gestellt, wonach man sich einen solchen Prozess für die Stadt wünscht, wo die Bürger zusammen mit der Verwaltung und dem Gemeinderat sich auf den Weg machen, Bürgerbeteiligung besser zu definieren: "Wo wollen wir hin? Was können wir leisten? Was denken wir, was zeitgemäß ist?" Nach anfänglichen Schwierigkeiten sei der Prozess immer besser und intensiver geworden. Die Rahmenbedingungen zu definieren, sei indes nicht einfacher geworden. Die Qualität dieser Vorlage bestehe darin, dass der Beirat für Bürgerbeteiligung entscheidet, welches der verschiedenen Formate und Verfahren im konkreten Fall gewählt wird. So gebe es die Möglichkeit, neben den eher großen Beteiligungsverfahren, wie sie bisher in Stuttgart durchgeführt wurden, mit kleineren Planungszellen zu arbeiten, sodass auch mit nur 20 Menschen qualitativ gute Ergebnisse erzielt werden können.

Die heutige Beschlussvorlage sei gleichzeitig ein Hybridwerk, eine Information für die interessierte Bürgerschaft und eine Handlungsempfehlung für die Verwaltung. Sie teilt die Meinung des Vorsitzenden, dass es außerdem noch einer guten Öffentlichkeitsarbeit bedarf. "Wir brauchen gut gemachte kleine Flyer, die Menschen dazu ermutigen, sich reinzudenken, was ist möglich in dieser Stadt. Wir brauchen ein aufgefrischtes Portal, wo man online die verschiedenen Angebote findet, natürlich muss die Vorhabenliste gut sortierbar sein und man muss schnell die kleinen Projekte vor Ort und die größeren Projekte auf einen Blick finden können." Zum Thema Bürgerbegehren unterstreicht die Stadträtin, die GRÜNEN setzen sehr stark auf das Gelingen solcher Initiativen, gleichzeitig sei man aber auch der Auffassung, dass eine abschließende Rechtsberatung nicht die Rolle der Stadt sein kann. Nichtsdestotrotz müsse man sich Gedanken machen, wie zum Gelingen beigetragen werden kann.

Nach Meinung von StR Körner (SPD) "haben wir alle gemeinsam in den letzten Jahren festgestellt, dass es eine gewisse Vertrauenskrise in die Demokratie gibt, wie wir sie praktizieren". Die Ursachen seien komplexer Natur, doch liege es sicherlich auch daran, dass die etablierten Parteien schwächer geworden sind und ihrer Aufgabe der politischen Willensbildung des Volkes nicht mehr so gerecht werden können wie sie es früher konnten, wo sie aufgrund ihrer Größe viel stärker in der Stadtgesellschaft verankert waren. Ein weiterer Faktor sei die extreme Komplexität der Entscheidungswege, wodurch die getroffenen Entscheidungen von vielen Menschen nicht mehr verstanden werden. Hinzu kommen die Rolle der Medien und die Qualität der Berichterstattung.

Die heutige Vorlage sei ein Schritt, um die Demokratie in der Stadtgesellschaft hochzuhalten und zu stärken. Dennoch müsse man sich darüber hinaus Gedanken machen, wie die repräsentative Demokratie gestärkt werden kann. Er verstehe die Leitlinie als ein Instrument, um Meinungsbildungsprozesse und die Vorbereitung der Entscheidungen im Rat zu verbessern und auf breitere Beine zu stellen. Besonders wichtig ist für ihn dabei, die Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten sicherzustellen. Dies sei einerseits eine Frage des Faktors Zeit, aber auch eine Frage, z. B. Menschen mit Migrationshintergrund stärker als bisher für solche Prozesse zu gewinnen. Ihn freue daher sehr, wenn nun andere Formen wie aufsuchende Beteiligung, Befragung etc. vermehrt stattfinden. Seine Fraktion habe bereits bei der Bürgerbeteiligung zum Rosenstein darum gebeten, solche Formen künftig stärker zu verankern.

Weiter begrüßt er sehr die Regelung, wonach eine Rückkoppelung zu denjenigen, die sich beteiligt haben, erfolgt, indem ein erster Schritt der Meinungsbildung vor Ort stattfindet. Seine Fraktion vertrete die Meinung, dass die Bezirksbeiräte hierzu ein sehr gutes Gremium sind, um eine solche Rückkoppelung bei den Beteiligten zu gewährleisten.

Abschließend lenkt er den Blick auf S. 23 der Vorlage und die dortigen Aussagen bezüglich des Zeit- und des Ressourcenaufwands. Nach seiner Überzeugung werden die Stärkung der Demokratie und der Ausbau von Beteiligungsprozessen nicht gelingen, ohne den Personalbestand in den Ämtern entsprechend anzupassen. Als Beispiel verweist er auf die Geschäftsordnung der Gemeinderatsfraktionen, wo verbindlich festgelegt ist, innerhalb welcher Frist Antworten der Verwaltung auf Anträge der Fraktionen zu erfolgen haben. Bereits heute sei die Verwaltung aus unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage, dem gerecht zu werden. Wenn weitere Aufgaben hinzukommen, so müsse klar sein, dass dies Zeit und Geld kostet und es Mitarbeiter dafür braucht, die diese Aufgaben leisten. Er wirbt dafür, dies bei den Haushaltsberatungen im Rahmen der Möglichkeiten zu berücksichtigen.

StR Rockenbauch (SÖS-LINKE-PluS) freut sich, dass OB Kuhn die Meinung inzwischen zu teilen scheine, wonach bei Bürgerbegehren am Ende der Gemeinderat über die Zulässigkeit entscheidet und es nicht eine rein juristische Ermessensentscheidung ist, wie dies bei S 21-Bürgerbegehren immer dargestellt wurde. Diese wankelmütige Haltung einschließlich der Aussage, die Verwaltung könne keine juristische Beratung geben, weil der Rat am Ende noch etwas zu entscheiden haben muss, erzeuge Verdrossenheit. Gar keinen wissenschaftlichen Befund gebe es dagegen, dass eine Krise der Demokratie besteht. Vielmehr bestehe eine Krise der jetzigen politischen Kultur. Auch mit dieser Vorlage könne man nicht lösen, dass die Bürger nicht mehr nur alle fünf Jahre über die Wahl ihrer Repräsentanten einbezogen werden wollen, sondern auch unterjährig mitentscheiden wollen. Bei dieser Vorlage entscheide aber am Ende der Oberbürgermeister oder der Gemeinderat. Dies müsste nicht immer so sein, würde man an einem Punkt dieser Vorlage deutlicher werden, nämlich wo es um die Verzahnung formeller und informeller Prozesse geht. Der Landesgesetzgeber müsse sich ein Vorbild nehmen an Ländern wie Bayern, die eine deutlich weitergehende und bürgerfreundlichere Mitbeteiligung haben, z. B. was die Bauleitplanung angeht.

Er teilt ebenfalls die Meinung, dass die Vorlage gut ist und im Laufe des Prozesses immer besser geworden ist. Weil sie nach seiner Ansicht noch besser werden kann, freue er sich auf die nächsten Runden der Überarbeitung. Verbesserungsbedarf, wo man schneller und spezifischer werden muss, sieht er, wenn es um Stadtentwicklung geht, weil die formelle Bürgerbeteiligung in der Bauleitplanung weitergehend sei. Die Bürgerbeteiligung Rosenstein hat aus seiner Sicht u. a. daran gekrankt, dass der hinter dem Projekt stehende strategische Gesamtprozess nicht beschrieben wurde. Städte wie z. B. Wien hätten einen Masterplan Stadtentwicklung entwickelt und könnten diesbezüglich als Vorbild dienen. Auch erachtet er die Anzahl von 1.000 Unterschriften für informelle Bürgerbeteiligung in den Stadtbezirken als zu hoch. So hätte man überlegen können, ob für lokale Projekte nicht weniger Unterschriften ausreichen.

Grundsätzlich überdacht werden muss aus seiner Sicht außerdem, "dass der Oberbürgermeister und der Gemeinderat an entscheidenden Stellen in diesem Prozess mindestens drei Mal den Hut auf haben". Wenn schon die erforderlichen Unterschriften vorliegen, so soll auf jeden Fall eine Beteiligung durchgeführt werden, fordert der Stadtrat. Er glaubt, unabhängig von der Leitlinie braucht es in der politischen Kultur und in der Verwaltungskultur Änderung. So müsse man darüber nachdenken, wie die Bezirksbeiräte gestärkt werden können, da sie viele der Beteiligungsprozesse vor Ort intensiv betreuen werden. Insofern reiche auch nicht die Rückkoppelung, sondern es brauche eine höhere Legitimation, z. B. über Stadtteilbudgets direkt für Bezirksbeiräte. Eine Verzahnung brauche es außerdem mit dem Bürgerhaushalt. Dort könnte man heute bereits über Bürgerbudgets wirkliche Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger einräumen.

Dringende Veränderung brauche auch das Thema Öffentlichkeitsarbeit. Es müsse z. B. möglich sein, dass die Bürgerinnen und Bürger einen Tag nach der Sitzung sich eine Videoaufzeichnung ansehen können. Die Verwaltung müsse zudem befähigt werden, das höhere Beteiligungsengagement der Bürgerinnen und Bürger mit genügend Ressourcen und Personal sinnvoll zu verarbeiten. Somit müsse man auch über Verwaltungsorganisation und -gliederung reden, damit Beteiligungsergebnisse nicht versickern.

OB Kuhn greift die Interpretation seiner Aussage von StR Rockenbauch zum Thema Bürgerbegehren auf und stellt richtig, er habe ausgeführt, dass bei der Beurteilung und in der Vorbereitung von Bürgerbegehren keine formale Rechtsberatung seitens der Stadtverwaltung erfolgen kann, nicht "weil wir ja einen politischen Spielraum behalten müssten, sondern weil wir die juristische Entscheidung treffen müssen, ob wir ein Bürgerbegehren für rechtsförmig halten oder nicht. Und deswegen können wir es nicht beraten, weil wir dann nicht mehr frei wären in der Entscheidung. Die Ausnahme, wo die Gemeindeordnung Beratung vorsieht, ist die Beratung der Abschätzung, ob die Kosten richtig quantifiziert sind, den Paragrafen habe ich Ihnen vorgelesen!"

StRin von Stein (FW) stimmt der Vorlage zu und weist darauf hin, dass auch bei informellen Bürgerbeteiligungen künftig Mehrheitsentscheidungen getroffen werden und es Menschen geben wird, die trotz aller Bemühungen, sie mitzunehmen, enttäuscht sein werden. Die Frage sei, wie sich diese Enttäuschung artikuliert. Bürgerbeteiligung sei eine tolle Sache, weil diese jedoch vor einem Verfahren stattfinde sei es fraglich, ob die Menschen angesichts der langen Zeiträume, die ins Land gehen, bis ein Bauwerk, eine Straße usw., da ist, dafür Verständnis haben. Es sei daher wichtig, immer wieder auf die eben genannten Punkte aufmerksam zu machen.

Nachdem man in einer repräsentativen Demokratie lebe, müsse auch respektiert werden, dass es Menschen gibt, die kein Bedürfnis haben, sich an Bürgerbeteiligungen zu engagieren, sondern ihre politischen Vertreter wählen, denen sie es überlassen, ihre Interessen zu vertreten. Sie stellt die Frage, ob es sein kann, dass es bei informellen Bürgerbeteiligungen vermehrt um das Verschieben von Verantwortung geht, und rät dazu, darüber bei dem einen oder anderen Verfahren nachzudenken. Nicht außer Acht zu lassen bittet sie außerdem das Thema der zeitlichen Belastung für Stadträtinnen und Stadträte in der Zukunft.

Für StR Prof. Dr. Maier (AfD) ist die Verabschiedung der Leitlinie ein bedeutender Schritt in Richtung direkte Demokratie und bessere Anbindung des Verwaltungshandelns an einen identifizierbaren Bürgerwillen, den seine Fraktion nach Kräften unterstützen werde. Bei mehreren parallel verlaufenden Bürgerbeteiligungsverfahren befürchtet er erhebliche Schwierigkeiten für kleine Fraktionen, diese Verfahren zu begleiten. Entsprechend den Erfahrungen, die man anhand der konkreten Abläufe gewinnt, können sich zwar Änderungen und Verbesserungen ergeben, doch wünsche er sich an einigen Stellen mehr Konkretheit. So müsste man für Personenkreise, die aufgrund ihrer Betroffenheit gehört werden müssen, aus unterschiedlichen Gründen aber nicht die Möglichkeit haben, an den Beratungen teilzunehmen, "ein Stück weit advokatorische Beratung vornehmen können".

Bei der Beantragung von Bürgerbeteiligungen vermisst er ebenfalls konkrete Aussagen. So sei beispielsweise nicht die Rede von einem Quorum oder von einer Form, wie diese Beantragung zu geschehen hat. Im Großen und Ganzen seien die Quoren relativ niedrig angesetzt, allerdings seien 1.000 Unterschriften dann, wenn es um einen einzelnen Stadtbezirk oder einen kleinen Stadtteil geht, eine hoch angesetzte Forderung. Aus seiner Sicht würde es sich anbieten, zu differenzieren je nach Einzugsgebiet, auf welches sich das Bürgerbeteiligungsverfahren beziehen soll.

StR Dr. Oechsner (FDP) findet, über die Stärkung der Bezirksbeiräte, Stadtteilbudgets und mehr Bürgerentscheide könne man gerne diskutieren, dies habe jedoch mit dem heutigen Thema der informellen Bürgerbeteiligung nicht viel zu tun. Er persönlich sieht keine Demokratieverdrossenheit, "eher ein bisschen Vertrauensverlust in die Parteien". Mit dieser Leitlinie gehe es um die Reglementierung eines Bausteins der Entscheidungsfindung. Dieser Baustein gebe den Räten über ihr eigenes Empfinden hinaus die Möglichkeit, das der Bürger abzurufen. Auch er merkt an, dass es nicht möglich sein wird für kleinere Gruppierungen oder kleinere Fraktionen an allen Entscheidungen und Bürgerbeteiligungen teilzunehmen. Zu hoffen bleibe daher, dass dieser Umstand "die Kleineren" nicht belastet.

Darüber hinaus gebe es in der Gesellschaft nach wie vor Menschen, die vollständig der repräsentativen Demokratie vertrauen und die sich deshalb nicht an solchen Verfahren beteiligen werden. Bei der Evaluation sei deshalb ein Augenmerk darauf zu legen, inwieweit man es bei informellen Bürgerbeteiligungen schafft, tatsächlich einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung zu erreichen. Würde man nur den Teil erreichen, der mit der repräsentativen Demokratie nicht zufrieden ist, so würde dies das Ganze in eine Richtung drängen, die nicht optimal ist. Nichtsdestotrotz halte man die Leitlinie für hervorragend im Sinne eines Einstiegs in eine Verbesserung der Bürgerbegehren an sich. Ob daraus später eine Verzahnung zu den formellen Bürgerbeteiligungen oder gar Bürgerentscheiden erfolgen wird, bleibe abzuwarten. Abzuwarten bleibe auch, inwiefern Menschen bereit sind, Entscheidungsprozesse über Jahre hinweg mitzugehen.

Herr Brause (GPR) unterstreicht, man könne den Ämtern definitiv nicht noch mehr Arbeit zusätzlich obendrauf packen, da diese bereits an der Kapazitätsgrenze arbeiten. Somit müsse priorisiert werden mit der Folge, dass Wichtiges hinten runterfällt. Aus Sicht des GPR werde der Gemeinderat nicht daran vorbeikommen, das Thema mit Stellen zu hinterlegen.

OB Kuhn weist darauf hin, Stellenentscheidungen werden im Rahmen der Haushaltsplanberatungen gefasst. Es sei aber klar, dass die Verwaltung für dieses Thema Personalressourcen braucht - in welchem Umfang werde noch zu beraten sein. Die Verwaltung werde einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten.

Er stellt klar, das vorgelegte Beteiligungskonzept stelle keinen Ersatz und keine Schwächung der repräsentativen kommunalen Demokratie dar. Es sei vielmehr eine Stärkung der Demokratie, "weil es die Atmungsfähigkeit für die Verwaltung und für die Fraktionen im Gemeinderat verbessert, wenn sie gut und richtig gemacht wird. Bei Beteiligung geht es um Öffentlichkeit, die nicht allein über Medien dargestellt wird, sondern auch dadurch, wie viele Menschen sich in einer Stadtgesellschaft in Vorbereitung der demokratischen Entscheidungen beteiligen können und ob sie gehört werden. Und wenn der Rat am Schluss sagt, er möchte es anders, ob es begründet wird, warum man es nicht macht."
Er glaube nicht daran, dass Bürgerbeteiligung die Schwächung der kommunalen Demokratie ausgleichen kann. Vielmehr müsse man dann, wenn Schwächen festgestellt werden in der Arbeit von Verwaltung, des Rats oder in der Interaktion zwischen Verwaltung und Rat, diese selber anpacken und etwas verändern. Er schließe aber nicht aus, dass gut gemachte Bürgerbeteiligung an der einen oder anderen Stelle eine Schwächung des normalen politischen Handelns der kommunalen Demokratie ans Tageslicht bringt und damit der Druck wächst, etwas zu verändern. Es könne aber nicht darum gehen, Verantwortung, die der Rat hat als gewähltes Hauptorgan, zu verschieben. Die Verantwortung werde sogar fokussierter, weil am Ende die Haushaltsberatungen stehen, wo entschieden werden muss, in welchem Verhältnis steht ein bestimmtes Thema zu vielen anderen Themen. Es sei darüber hinaus eine Illusion zu glauben, dass Bürgerbeteiligung als Mechanismus verwendet wird nach dem Motto: "Was man im Rat nicht durchkriegt, das machen wir über die Beteiligungsschiene".

Die Bezirksbeiräte seien ihrerseits ein ernst zu nehmendes Beteiligungsorgan, denn sie beraten den Gemeinderat und die Verwaltung - mit aufschiebender Wirkung, wenn der Bezirksbeirat anderer Meinung ist. Sie sind dagegen kein Beschlussorgan. Er würde sich freuen, wenn dieser Grundcharakter gestärkt wird, aber andererseits in den Bezirksbeiräten klar gesehen wird, dass sie kein Ersatzgemeinderat für die Bezirke sind.

Die informelle Bürgerbeteiligung sei ein gutes Instrument der Kommunikation, der Vorbereitung und der Qualifizierung von Entscheidungen für den Gemeinderat, welcher die Verantwortung hat. Dies müsse entsprechend kommuniziert werden, denn in den Beteiligungsformaten sei es entscheidend, den Bürgerinnen und Bürgern, die sich engagieren, keine Illusionen zu machen, welche Arbeit sie gerade leisten. Abschließend verweist er auf die Ziffer 4 des Beschlussantrags, wonach nach einer zweijährigen Erprobungsphase die Leitlinien überprüft werden, um ggf. nachzujustieren.

StR Rockenbauch bittet OB Kuhn die Gründe darzulegen, warum die Entscheidungsgrundlage nicht gleich bei der Erarbeitung der Formulierung geschehen kann? "Dass der gleiche juristische Aufwand, den Sie machen, um im Nachhinein die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens zu prüfen, im Voraus investiert wird - sprich, ein Gutachten gemacht wird, juristischer Beistand geleistet wird, wie man die Sache formuliert, damit sie juristisch zulässig ist." Seines Erachtens ist die Repräsentativität eines Verfahrens - die Frage: "Sind die Teilnehmer statistisch ein Querschnitt aus der Bevölkerung?" - etwas anderes als die repräsentative Demokratie. Denn auch die Mitglieder des Gemeinderats stellen nicht den Querschnitt der Bevölkerung dar, sie seien aber gewählt. Er teilt die Befürchtung daher nicht, dass sich nur Sonderinteressen bei diesen Verfahren durchsetzen könnten. Vielmehr sei die Frage: "Wer geht überhaupt zur Wahl, wer sitzt in den Parlamenten?" bereits heute das Problem in der gewählten Demokratie. Dort setzen sich Sonderinteressen genauso durch wie sie sich in der Bürgerbeteiligung durchsetzen können.

BM Dr. Mayer informiert, gemäß § 21 GemO entscheidet der Gemeinderat innerhalb der vorgesehenen Frist (zwei Monate) über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens. Ausdrücklich betont er, es sei eine rein rechtliche Frage. Der Gemeinderat sei aber angehalten, diese Entscheidung zu treffen. Hat er die eigene Sachkunde nicht, so habe er sich Sachkunde einzuholen, was er durch Rechtsgutachten tut. Diese Vorschrift werde so anerkannterweise ausgelegt. Die jeweiligen Gutachten führen dazu, dass sich der Gemeinderat Sachkunde einholt und für sich damit eine Plausibilitätsentscheidung trifft. Dies mache es dennoch nicht zu einer politischen Entscheidung, sondern es bleibe eine rechtliche Frage.

Nach dem Eindruck von StR Körner liegt bei SÖS-LINKE-PluS das Problem bei Bürgerentscheiden eher darin, dass dann, wenn sie nicht so ausgehen, wie man es sich versprochen hat, sie nichts mehr von demokratischen Entscheidungsfindungsinstrumenten hält. StR Rockenbauch widerspricht dem. Was S 21 angeht, so sei es richtig, die demokratischen Beschlüsse an die veränderte Faktenlage anzupassen. Beschlüsse dürfen in einer Demokratie nicht in Stein gemeißelt sein.

StRin Deparnay-Grunenberg (90/GRÜNE) merkt an, bei der Volksabstimmung habe ihre Partei S 21 anders beworben, doch akzeptiere man die Entscheidung des Volkes. Sie glaubt - unabhängig davon, wie man zu S 21 steht - nicht, dass man sich in Baden-Württemberg bei einem Projekt in dieser Größenordnung tatsächlich bei jeder neuen Entwicklung ein neues Abstimmungsverfahren leisten kann.

Im Hinblick auf die juristische Beratung wäre es aus ihrer Sicht eine tolle Leistung einer Stadt, sich das Gelingen von Bürgerbegehren auf die Fahne zu schreiben und zu sagen, wir leisten auch eine Beratung in dieser Richtung. Bei einer proaktiven Formulierung der Verwaltung für ein Begehren der Bürger, welches sich meistens gegen die Mehrheit im Rat wendet, hätte man - wenn die Formulierung doch nicht gelingt und die Bürger gegen die Stadt klagen - eine Rechtsberatung gemacht, die nicht standhaft war. Wenn ein Bürgerbegehren dagegen bei der Stadt eingereicht wird und die Verwaltung durch ein Gutachten ihre Auffassung dazu gibt, so könne man sich diesem annehmen oder nicht annehmen, die Stadt wäre in diesem Fall aber nicht in der Haftung.


OB Kuhn stellt abschließend die Vorlage mit folgenden Änderungen zur Abstimmung:

- Der Titel der Vorlage GRDrs 591/2016 Neufassung wird der Anlage 1 angepasst (Änderung fett hervorgehoben) und lautet: "Leitlinie für informelle Bürgerbeteiligung in der Landeshauptstadt Stuttgart". Diese Ergänzung wird auch übernommen in die Beschlussantragsziffer 1.

- Die Beschlussantragsziffer 1 lautet somit:
"1. Der Gemeinderat beschließt die sich im Anhang befindliche "Leitlinie für
informelle Bürgerbeteiligung in der Landeshauptstadt Stuttgart". Sie tritt zum 01.10.2017 in Kraft.

Er stellt fest:

Der Verwaltungsausschuss stimmt der GRDrs 591/2016 Neufassung mit diesen Änderungen einmütig zu.

zum Seitenanfang