Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Recht/Sicherheit und Ordnung
Gz: RSO 0614-01
GRDrs 327/2014
Stuttgart,
05/05/2014



Rechtsmittelverfahren zur Feststellung der neuen amtlichen Einwohnerzahl im Rahmen des Zensus 2011



Beschlußvorlage
Vorlage an
    zur
SitzungsartSitzungstermin
Verwaltungsausschuss
Gemeinderat
Kenntnisnahme
Beschlussfassung
öffentlich
öffentlich
21.05.2014
22.05.2014



Beschlußantrag:

Die Landeshauptstadt Stuttgart erhebt gegen die Feststellung der neuen amtlichen Einwohnerzahl durch das Statistische Landesamt im Rahmen des Zensus 2011 keine Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart.



Kurzfassung der Begründung:
Ausführliche Begründung siehe Anlage 1

Die im Rahmen des Zensus 2011 ermittelte Einwohnerzahl wurde mit Bescheid vom 21. Juni 2013 durch das Statistische Landesamt gegenüber der Landeshauptstadt Stuttgart als amtliche Einwohnerzahl zum Stand 9. Mai 2011 festgestellt. Dagegen hat die Landeshauptstadt Stuttgart mit Schreiben vom 19. Juli 2013 Widerspruch eingelegt und den Widerspruch mit Schreiben vom 31. Oktober 2013 ausführlich begründet.

Mit Schreiben vom 24. April 2014 wurde der Widerspruch vom Statistischen Landesamt zurückgewiesen. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wurden der Landeshauptstadt allerdings ergänzende Kennziffern zur Verfügung gestellt, mit deren Hilfe die Plausibilität der Einwohnerzahlermittlung festgestellt werden konnte. Trotz bestehender Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlagen des Zensus gibt es derzeit keine Hinweise darauf, dass die Durchführung des Zensus 2011 und die Ermittlung der neuen amtlichen Einwohnerzahl für die Landeshauptstadt Stuttgart nicht auf Basis der gesetzlichen Vorgaben erfolgt sind. Die Verwaltung empfiehlt daher keine weiteren Rechtsmittel einzulegen.



Nach Ablauf der Klagefrist von einem Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheides wird die neue amtliche Einwohnerzahl für Stuttgart rechtskräftig.


Begründung
Methodische Hintergründe
Der Zensus 2011 ist methodisch ein hochkomplexes Verfahren, das sowohl registergestützt (mehrere bestehende Verwaltungsregister wurden zusammengespielt) als auch stichprobenbasiert ist. Die kommunalen Melderegister – als zentrale Datenbasis des Zensus – wurden durch mehrere Korrekturverfahren rechnerisch berichtigt: Im Rahmen der sog. Mehrfachfallprüfung wurden Personen identifiziert, die mit mehreren Hauptwohnungen oder ausschließlich mit Nebenwohnungen gemeldet waren. In Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern wurde eine geschichtete Stichprobe (Umfang in Stuttgart: ca. 4,5 Prozent der Bevölkerung) aus dem Melderegister gezogen. An diesen Stichprobenanschriften wurden alle Bewohner durch Interviewer erhoben und das Ergebnis der Erhebung mit den Angaben des Melderegisters verglichen. Das Ergebnis dieses Vergleichs („Karteileichen“ und Fehlbestände) wurde entsprechend der Stichprobengröße auf die Gesamtstadt hochgerechnet. Zusätzlich wurden die Bewohner sog. Sonderbereiche (Heime, Anstalten) entweder direkt oder über die jeweilige Einrichtungsleitung befragt.


Ergebnisse
Die durch den Zensus 2011 ermittelten neuen amtlichen Einwohnerzahlen unterscheiden sich erwartungsgemäß bundesweit zum Teil deutlich von der amtlichen Bevölkerungsfortschreibung auf Basis der Volkszählung 1987. Zum Stichtag des Zensus 2011, 9. Mai 2011, wurden für Stuttgart 585 890 Einwohner mit Hauptwohnung ermittelt (neue amtliche Einwohnerzahl). Auf Basis dieser Zahl wird künftig jährlich die amtliche Einwohnerzahl durch das Statistische Landesamt Baden-Württemberg fortgeschrieben bis zur nächsten Volkszählung im Jahr 2021. Gegenüber der „alten“ amtlichen Einwohnerzahl auf Basis der Volkszählung 1987 bedeutet das eine Differenz von - 22 681 Einwohnern bzw. - 3,7 Prozent (Finanzdifferenz).

Als Maßstab zur realistischen Einordnung der Zensusergebnisse eignet sich allerdings eher ein Vergleich zwischen den im Zensus ermittelten Einwohnerzahlen mit den Melderegisterzahlen (Registerdifferenz). Zum 9. Mai 2011 waren in Stuttgart 568 278 Personen mit Hauptwohnung gemeldet. Nach Heidelberg (+ 8,9 %) hat Stuttgart (+ 17 612 Einwohner, + 3,1 %) die höchste positive relative Registerabweichung der deutschen Großstädte.







Die Differenz der unterschiedlichen Einwohnerzahlen stellt sich wie folgt dar:

Stand: 30.04.2011 bzw. 09.05.2011
„Alte“ amtliche Einwohnerzahl
(Basis: Volkszählung 1987)
„Neue“ amtliche Einwohnerzahl
(Basis: Zensus 2011)
Finanzdifferenz
Einwohnerzahl des Melderegisters
Registerdifferenz
Stuttgart
608 571
585 890
- 3,7 %
568 278
+ 3,1 %
Gemeinden in B.-W. mit 100 000 bis 500 000 Einwohnern
- 4,3 %
+ 1,1 %
Gemeinden in B.-W. mit 50 000 bis 100 000 Einwohnern
- 3,4 %
- 0,7 %
Gemeinden in B.-W. mit 10 000 bis 50 000 Einwohnern
- 2,7 %
- 1,6 %
Gemeinden in B.-W. mit unter 10 000 Einwohnern
- 1,0 %
- 0,4 %
Baden-Württemberg
10 758 047
10 486 660
- 2,5 %
10 553 314
- 0,6 %
Deutschland
81 729 155
80 209 997
- 1,9 %

Finanzielle Auswirkungen

Die amtliche Einwohnerzahl hat bei der Verteilung der Finanzmittel im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs (FAG) eine entscheidende Bedeutung. Die sogenannte FAG-Masse ist die Summe der Mittel, die im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs unter Berücksichtigung von Verteilungskriterien den Gemeinden und Landkreisen zur Finanzierung ihrer Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. Von dieser wurden z. B. im Jahr 2012 von 7 592 Mio. Euro rd. 3 975 Mio. Euro, also ca. 52 Prozent, unter Berücksichtigung des Faktors Einwohner verteilt.

Beim Faktor Einwohner ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des Zensus 2011 nicht nur die Landeshauptstadt 3,7 Prozent weniger Einwohner hat, sondern auch im Landesdurchschnitt die Einwohnerzahl zurückgegangen ist (2,5 %). Daraus folgt, dass ein Teil der finanziellen Auswirkungen bei der Landeshauptstadt durch den landesweiten Einwohnerrückgang „aufgefangen“ wird.

Unter Berücksichtigung dieses Faktors haben Vergleichsberechnungen für den FAG (Variante 1: Weitergeltung der auf der Grundlage der Volkszählung 1987 fortgeschriebenen Bevölkerung; Variante 2: gesetzliche Übergangsfrist zum Zensus 2011 für 2014 bis 2016 im Verhältnis der EW-Fortschreibung Volkszählung zu Zensus 50:50 für 2014, 25:75 für 2015 und 0:100 für 2016) ergeben, dass sich die durch die neue amtliche Einwohnerzahl bedingten Mindereinnahmen bei der Landeshauptstadt auf etwa 9 Mio. (2014), 13 Mio. (2015) bzw. 15 Mio. (2016, wo die Verluste in 2014 über eine verringerte FAG-Umlage in 2016 gemildert werden) belaufen.






Aus der Anrechnung des gegenüber dem Bundesdurchschnitt höheren Einwohnerrückgangs von Baden-Württemberg ergibt sich im Länderfinanzausgleich laut Medienberichten ein zusätzlicher Ausgleichsbetrag des Landes Baden-Württemberg von 180 Mio. Euro/Jahr, der die FAG-Masse verringert.

Dies führt bei der Landeshauptstadt zusätzlich zu den o.a. Werten zu geringeren FAG-Zuweisungen in Höhe von rd. 3,0 Mio. Euro/Jahr.
Die finanziellen Auswirkungen auf die Landeshauptstadt (aber auch auf die Gemeinden der anderen Größenklassen) werden in 2014 (und ggfs. auch in 2015) teilweise wieder kompensiert durch den Anstieg der FAG-Masse, den das Finanzministerium aufgrund der Mai-Steuerschätzung 2013 prognostiziert hat. Diese Prognose wurde mit der November-Steuerschätzung 2014 aufrechterhalten.


Rechtliche Bewertung und weiteres Vorgehen
Im Zuge des Feststellungsbescheids wurde zur Erläuterung des Zustandekommens der Einwohnerzahl ein Datenblatt mitgeliefert, das allerdings keine umfassende und detaillierte Nachprüfung der neuen Einwohnerzahl durch das Statistische Amt erlaubt. Die Landeshauptstadt Stuttgart hat daher innerhalb der gesetzlichen Frist vorsorglich zur Wahrung der städtischen Interessen Widerspruch gegen den Feststellungsbescheid eingelegt und weitere Informationen zur besseren Einschätzung einer korrekten Ermittlung der Einwohnerzahl eingefordert.

Diese Informationen wurden zwischenzeitlich für Stuttgart zwar nicht voll umfänglich, aber doch in einem Umfang geliefert, der die Annahme rechtfertigt, dass die neue amtliche Einwohnerzahl von Stuttgart im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben ermittelt worden ist. Damit hätte eine Klage der Stadt gegen das Ermittlungsverfahren selbst keine ausreichende Aussicht auf Erfolg.

Grundsätzliche methodische Zweifel gegenüber der Genauigkeit der Zensusmethode als solcher und der vollständigen Nachvollziehbarkeit der Methode und des ermittelten Ergebnisses, mithin an der Verfassungsmäßigkeit des Zensusgesetzes, sind damit zwar nicht ausgeräumt. Die Verwaltungsgerichte wären jedoch gar nicht befugt, das Zensusgesetz selbst für verfassungswidrig zu erklären; es ist dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten, die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz zu überprüfen. Voraussetzung für eine Vorlage eines Vorgangs an das Bundesverfassungsgericht ist, dass ein Gericht davon überzeugt sein muss, dass das in Rede stehende Gesetz verfassungswidrig ist; bloße Zweifel würden nicht genügen. Es ist aber nicht mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass ein Verwaltungsgericht zu der Überzeugung kommen wird, das Zensusgesetz widerspreche dem Grundgesetz.




Dies alles spricht gegen eine verwaltungsgerichtliche Klage der Stadt.

Eine Klage erscheint darüber hinaus nur dann sinnvoll, wenn ein für die Stadt günstiger Prozessausgang konkrete Vorteile für die Stadt bieten würde, die den mit einem Prozess verbundenen Aufwand deutlich übersteigen und nicht außer Verhältnis zum Prozessrisiko stehen. In Anbetracht des (relativ) guten Abschneidens der Landeshauptstadt beim Zensus 2011 ist dies nach Auffassung der Verwaltung nicht gegeben.


Beteiligte Stellen

Referat WFB




Dr. Martin Schairer
Bürgermeister


Anlagen






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