Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Soziales/Jugend und Gesundheit
Gz:
GRDrs 803/2010
Stuttgart,
11/10/2010



Pflegeheimarzt im ELW



Beschlußvorlage
Vorlage an
    zur
SitzungsartSitzungstermin
Betriebsausschuss Leben und Wohnen
Verwaltungsausschuss
Gemeinderat
Vorberatung
Beratung
Beschlussfassung
öffentlich
öffentlich
öffentlich
22.11.2010
01.12.2010
02.12.2010



Beschlußantrag:

1. Dem Konzept „Pflegeheimarzt im ELW“ entsprechend der unter 4.2 der Vorlage genannten Eckpunkten wird zugestimmt.
2. Der Einstellung eines Arztes mit Ermächtigung nach § 119b Satz 3 SGB V zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung in den Pflegeeinrichtungen des ELW wird zugestimmt.
3. Der entsprechenden Umwidmung einer Stelle im Stellenplan des ELW mit einer übertariflichen Eingruppierung entsprechend Entgeltgruppe 2, Stufe 6 (Facharzt) des Krankenhaustarifes, zzgl. 60% Jahressonderzahlung, wird zugestimmt.


Kurzfassung der Begründung:
Ausführliche Begründung siehe Anlage 1

In den Pflegeheimen gilt das ambulante Hausarztsystem entsprechend dem Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen nach § 75 SGB V und die freie Arztwahl nach § 76 SGB V. Dieses Versorgungsprinzip stößt in den stationären Pflegeeinrichtungen aus zwei Gründen immer mehr an seine Grenzen.

Die Bewohner in den Pflegeeinrichtungen werden immer älter. Die Multimorbidität nimmt stetig zu. Das erfordert zwangsläufig einen weitaus höheren behandlungspflegerischer Aufwand und auch eine intensivere ärztliche Betreuung. Dieser Trend wird schon in nächster Zukunft aufgrund der demographischen Entwicklung weiter zunehmen.

Dem steigenden Bedarf an ärztlichen Leistungen im Pflegeheim steht die spürbar zurückgehende Bereitschaft der Ärzte entgegen, in die Pflegeheime zu kommen. Hintergrund ist in erster Linie die seit 01.01.2009 geltende Gebührenordnung, mit der sich die finanzielle Situation der Ärzte deutlich verschlechtert hat. Demnach steht den Hausärzten für das Regelleistungsvolumen pro Kassenpatient ein Betrag von 35 bis 45 Euro je Quartal zur Verfügung. Fachärzte liegen teilweise noch darunter.


1. Auswirkungen auf die ärztliche Versorgung in den Pflegeheimen

Bei einer Umfrage des Trägerforums der Stuttgarter Altenhilfeeinrichtungen, über die der SGA am 08.02.2010 informiert wurde, haben 50% der befragten Einrichtungen zum Ausdruck gebracht, dass die haus- und fachärztliche Versorgung in ihrem Pflegeheim 2009 gegenüber 2008 schlechter geworden ist. Insgesamt 44% waren mit der ärztlichen Versorgung der Bewohner aktuell nicht oder nur teilweise zufrieden. Andererseits beurteilen 49% der Befragten die Zusammenarbeit mit den Hausärzten sehr gut bis gut. Das ist ein wichtiger Aspekt, um deutlich zu machen, dass die Probleme bei der ärztlichen Versorgung in den Pflegeheimen nicht den Ärzten angelastet ist, sondern den ambulanten Versorgungsstrukturen und der damit verbundenen unzureichenden Vergütung geschuldet ist.

In den Einrichtungen des ELW bestehen, wie auch in den anderen Stuttgarter Pflegeheimen, aufgrund der eingangs beschriebenen Konstellation Probleme bei der ärztlichen Versorgung, die sich in den nächsten Jahren deutlich verschärfen werden, wenn keine Maßnahmen zur Gegensteuerung ergriffen werden. Folgende Probleme stehen im Vordergrund:

§ Hausarztvisiten sind zu selten: Derzeit finden fast 65% der Hausarztvisiten nur monatlich oder seltener statt, was bei einem Quartalsbudget von 35 bis 45 Euro auch nicht verwunderlich ist. Nach Einschätzung der Einrichtungen müssten aber deutlich mehr Hausarztvisiten durchgeführt werden. Auch eine telefonische Konsultation über einen veränderten Gesundheitszustand des Bewohners oder zur Klärung einer Medikation ist häufig aus Zeitgründen nicht im notwendigen Umfang möglich. Nach der Umfrage haben 42% der Einrichtungen Schwierigkeiten, den Hausarzt zu einem Hausbesuch zu bewegen, wenn dies aus Sicht der Pflege erforderlich ist. Oftmals wissen sich die Pflegekräfte nicht anders zu helfen, als nach 19 Uhr den ärztlichen Notdienst anzurufen, was dann häufig eine unnötige Krankenhauseinweisung zur Folge hat.

§ Fachärzte kommen kaum noch ins Heim: Bei der fachärztlichen Versorgung wird die Unterversorgung noch deutlicher: 74% der Einrichtungen sind der Auffassung, dass die fachärztlichen Visiten nicht oder nur teilweise ausreichend sind. 90% der Visiten von Fachärzten, wie Urologen oder Gerontopsychiatern finden nur einmal im Quartal oder seltener statt. Diese Einschätzung wird auch durch den BEK-Pflegereport der Uni Bremen bestätigt, wonach es in Pflegeheimen deutlich weniger internistische oder orthopädische Behandlungsfälle gibt, als im ambulanten Bereich, was ein sicherer Hinweis darauf ist, dass die Fachärzte zu selten ins Pflegeheim kommen.

§ Vermeidbare Überweisungen zu Fachärzten und in Krankenhäuser: Die Umfrage hat gezeigt, dass rund 36% der Transporte und Einweisungen wegen Katheterwechsels verzichtbar wären, wenn die Vernetzung der Hausärzte und die fachärztliche Versorgung besser wären. Fast alle Einrichtungen geben an, dass es Krankenhauseinweisungen gibt, weil kein Arzt oder Bereitschaftsarzt zu erreichen ist. Wäre dies der Fall, ließen sich 11% der Einweisungen vermeiden. Dies führt zwangsläufig zu vermeidbaren Krankenhauseinweisungen und vermeidbaren Überweisungen zu Fachärzten, die für die Bewohner immer eine große physische und psychische Belastung darstellen. Es ist aber auch wirtschaftlich unsinnig, wenn die Krankenkasse zwar Transportkosten finanziert, es aber keine auskömmliche Vergütung für eine ärztliche Konsultation im Pflegeheim gibt.

§ Versorgung in Spezialbereichen: Die Pflegeheime sehen die ärztliche Unterstützung in Spezialbereichen wie Wundversorgung, Schmerztherapie, Palliativ Care sowie die Versorgung mit Zusatz- und Trinknahrung und die medikamentöse Versorgung kritisch. 60 bis 70% der Einrichtungen haben den Eindruck, dass die medizinische Versorgung in diesen Bereichen nicht immer den aktuellen Standards entspricht.

§ Verordnungspraxis der Fachärzte: Auch die Verordnungspraxis der Fachärzte wird kritisch gesehen: 42% der Einrichtungen haben den Eindruck, dass die verordnete medikamentöse Versorgung demenziell erkrankter Bewohner teilweise oder nicht angemessen ist bzw. nicht den aktuellen medizinischen Standards entspricht.

§ Es gibt Schwierigkeiten Hausärzte zu gewinnen: Mit dem Einzug ihres Patienten in ein Pflegeheim fühlen sich Hausärzte häufig aus Verbundenheit verpflichtet, die Versorgung weiter aufrecht zu erhalten. Wenn dies jedoch nicht der Fall ist oder wenn ein praktizierender Hausarzt in den Ruhestand geht, ist es für eine Einrichtung außerordentlich schwierig, einen neuen Hausarzt für den Bewohner zu gewinnen.

§ Koordination der Ärzte ist sehr schwierig: Die freie Arztwahl hat zur Folge, dass ein einzelnes Heim mit bis zu 50 Hausärzten zusammenarbeitet, die zu den verschiedensten Zeiten ins Heim kommen. Insgesamt praktizieren in den Einrichtungen des ELW rund 260 niedergelassene Ärzte, wobei ca. 80% der Ärzte 20% der Bewohner betreuen und 20% der Ärzte ca. 80% der Bewohner. Es ist sehr schwer, mit einer so großen Anzahl unterschiedlicher Ärzte eine kontinuierliche und effektive Zusammenarbeit zum Wohle der Bewohner zu organisieren. Die Koordination der ärztlichen Versorgung, sowie die Kommunikation und die Abstimmung mit den Ärzten bindet enorme zeitliche Ressourcen sowohl bei den Pflegekräften als auch bei den ärztlichen Praxen.


2. Entwicklungen auf Landesebene

Die beschriebenen Probleme gibt es nicht nur in Stuttgart, sondern in unterschiedlicher Ausprägung überall in Baden-Württemberg. Der ELW hat das Thema in Abstimmung mit den Verbänden auf Landesebene eingebracht und im Oktober 2009 und im Februar 2010 im Landespflegeausschuss erörtert. Von allen Seiten, auch vom Sozialministerium und den Vertretern der kassenärztlichen Vereinigungen wurde die Bedeutung des Themas unterstrichen. Das Sozialministerium hat eine Arbeitsgruppe einberufen, die sich mit dem Thema befasst und Lösungen erarbeitet. Es sollen vier verschiedene Modellprojekte in verschiedenen Regionen Baden-Württembergs aufgelegt und vom Sozialministerium gefördert werden. Konkrete Ergebnisse stehen noch aus.


3. Stuttgarter Modellprojekt “Arzt im Pflegeheim“

Der ELW hat als Mitglied der AG und in Abstimmung mit anderen Trägern das Stuttgarter Modellprojekt “Arzt im Pflegeheim“ in die Diskussion eingebracht. Dieses Modell beschreibt auf der Basis der Erfahrungen aus dem Berliner Heimarztmodell, Eckpunkte zur medizinischen Grundversorgung in Pflegeheimen. Im Kern geht es darum, die medizinische Versorgung in den teilnehmenden Pflegeheimen durch kooperierende Ärzte zu erbringen, die dem Netzwerk durch schriftliche Erklärung beitreten und die eine entsprechende Qualifikation vorweisen.

Je Pflegeheim soll nur eine begrenzte Anzahl an Ärzten beitreten können. Krankenhäuser können sich dem Netzwerk als Kooperationspartner ebenfalls anschließen. Mit den Pflegekassen soll vereinbart werden, dass sich die teilnehmenden niedergelassenen Ärzte oder auch angestellte Heimärzte verpflichten, besondere Leistungen zu erbringen. Dazu zählen insbesondere regelmäßige Visiten mindestens einmal pro Woche, gemeinsame Fallbesprechungen, Rufbereitschaftszeiten und die verbindliche Abstimmung von Organisationsstrukturen und Arbeitsprozessen zwischen dem Pflegeheim und den teilnehmenden Ärzten.

Die höheren Leistungen sollen durch entsprechend höhere Vergütungen honoriert werden, die im Berliner Modell 200 Euro je Patient und Quartal beträgt. Die Erfahrungen in Berlin zeigen, dass die Einsparungen bei Krankenhauseinweisungen, bei Arzneimittelverordnungen und bei Transportkosten ausreichen, um die höheren Vergütungen zu finanzieren.

Die Realisierung des Stuttgarter Modells ist bislang an den unterschiedlichen Interessen der Krankenkassen einerseits und den Vorstellungen der Kassenärztlichen Vereinigung andererseits gescheitert. Die Ziele des Modells, mit der eine Verbesserung der medizinischen Versorgungsqualität von Pflegeheimbewohnern, eine Reduzierung von Krankenhausfällen, die Verringerung des Arzneimittelaufwandes und die Vermeidung unnötiger Transporte sowie die Erhöhung der Wirtschaftlichkeit und der Abbau von Bürokratie erreicht werden soll, sind jedoch unstrittig.


4. Lösungen für die Pflegeheime des ELW

Um die Probleme mit der ärztlichen Versorgung in den städtischen Pflegeheimen zu lösen, verfolgt der ELW zwei strategische Linien, die zusammen zum Erfolg führen und auch für andere Träger Lösungsansätze aufzeigen sollen:

§ Alle Bewohner werden schriftlich darüber informiert, dass durch den Pflegeheimarzt des ELW die freie Arztwahl nicht eingeschränkt wird. Aufgrund der bestehenden Probleme wird aber damit gerechnet, dass sich nach und nach ca. 20% der Bewohner für den Pflegeheimarzt entscheiden dürften.

§ Für den Pflegeheimarzt soll im Parkheim Berg ein Arbeitszimmer eingerichtet werden, das mit dem üblichen Praxisbedarf ausgestattet wird. Notwendige Sekretariats- und Schreibarbeiten sowie die Abrechungen werden von der Verwaltung im Parkheim mit abgedeckt.

§ Der Arzt wird von seinem Standort im Parkheim aus, regelmäßig zu fest vereinbarten Terminen in alle ELW Pflegeheime gehen um sich zunächst konsilliarisch für die Pflege zu engagieren. Schrittweise soll er dann auch die Behandlung von Bewohnern übernehmen, bei denen eine angemessene ärztliche Versorgung durch niedergelassene Hausärzte nicht möglich ist.

§ Die ärztlichen Leistungen des ELW Arztes werden entweder analog zu den Regelungen im ambulanten Bereich nach EBM mit der KV abgerechnet oder im Rahmen des IV Vertrages direkt mit der AOK auf der Basis der vereinbarten HZV Vergütung.

§ Der Pflegeheimarzt wird analog zu den Fachberatungen im ELW als Stabsstelle direkt der Geschäftsführung zugeordnet und in Einnahmen und Ausgaben auf der Kostenstelle des Zentralen Dienstes geführt. Bei ärztlichen Entscheidungen ist der Pflegeheimarzt nicht weisungsgebunden.

§ In der Zusammenarbeit mit dem Pflegedienst wird darauf geachtet, dass Arzt und Pflege auf Augenhöhe kooperieren. Als Stabsstelle hat der Pflegeheimarzt keinerlei Weisungsrecht gegenüber den leitenden Pflegefachfachkräften oder anderen Beschäftigten des ELW.

§ Alle relevanten Prozesse insbesondere in der Zusammenarbeit mit dem Pflegedienst, dem Ablauf der Visiten, der gemeinsamen Dokumentation, der Durchführung von Fortbildungen, der Einbindung in das Qualitätsmanagement und in die Kommunikationsstrukturen etc. werden in einem Konzept beschrieben, das im Rahmen einer Projektgruppe zusammen mit dem Arzt entwickelt wird.

§ Aufgabe des Pflegeheimarztes ist auch, die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten zu fördern und die je Pflegeheim zu organisierenden ärztlichen Versorgungsnetzwerke aktiv mitzugestalten. Innerhalb dieser Netzwerke soll der ELW Arzt auf Augenhöhe mit den niedergelassnen Ärzten zusammenarbeiten, Fortbildungen durchführen und Fallbesprechungen organisieren.
§ Zudem soll der Pflegeheimarzt bei strittigen Fragen, die immer häufiger im Rahmen von MDK Begutachtungen oder MDK Prüfungen entstehen, konsultiert werden.

§ Die Arbeit des Pflegeheimarztes im ELW soll in den ersten beiden Jahren wissenschaftlich begleitet und die Auswirkungen auf die Zufriedenheit bei Bewohnern, Pflegepersonal und Ärzten sowie die medizinische Versorgungsqualität, die Wirtschaftlichkeit und die Wirkungsweise der Versorgungsnetzwerke evaluiert werden.


Finanzielle Auswirkungen

Durch die Anstellung des Pflegeheimarzt entstehen dem ELW zusätzliche, im Wirtschaftsplan bislang nicht eingeplante Kosten, die sich voraussichtlich wie folgt zusammensetzen:

Personalkosten für den Arzt 67.800 Euro
zzgl. Arbeitgeberanteil ca. 20 % 13.600 Euro
Sachkosten (Büro, Ausstattung Arztzimmer, etc.) 2.600 Euro
Dienstfahrzeug 6.000 Euro
Evaluierung und Projektbegleitung 8.000 Euro

Kosten p.a. insgesamt: 98.000 Euro

Da nicht abzusehen ist, wie viele Patienten durch den Pflegeheimarzt tatsächlich ärztlich betreut werden und in welcher Höhe die Leistungen mit der KV bzw. der AOK abgerechnet werden können, kann es sich bei der Darstellung der Finanzierung nur um grobe Annahmen handeln.

Einnahmen über Fortbildungsmaßnahmen 6.000 Euro
Förderung über Robert Bosch Stiftung 8.000 Euro

Finanzierung p.a. insgesamt: 89.000 Euro

Daraus ergibt sich eine Unterdeckung von ca. 9.000 Euro p.a., die vom ELW zu tragen wäre. Angesichts der zweifellos zu erwartenden qualitativen Vorteile auch in Bezug auf die Auslastung der Pflegeheime ist eine Subventionierung der Stelle in dieser Größenordnung sicher vertretbar. Ziel ist es natürlich, dass sich die Stelle des Heimarztes soweit wie möglich durch eigene Einnahmen trägt. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass je nach dem wie sich die Einnahmemöglichkeiten und die Nachfrage nach dem Pflegeheimarzt entwickeln, auch eine größere Unterdeckung nicht auszuschließen ist. Dies wird im Rahmen der Kostenträgerrechnung laufend durch das Controlling überwacht, so dass ggf. gegengesteuert werden kann.



Beteiligte Stellen

Die Vorlage wurde von Referat WFB und Referat AK mitgezeichnet




Isabel Fezer
Bürgermeisterin


Anlagen

Keine




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