Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Allgemeine Verwaltung/Kultur und Recht
Gz: AKR
GRDrs 1048/2019
Stuttgart,
10/23/2019


Erinnerungskultur
- Erforschung der NS-Geschichte
- künftige Betreuung




Mitteilungsvorlage zum Haushaltsplan 2020/2021


Vorlage anzurSitzungsartSitzungstermin
Verwaltungsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Kenntnisnahme
Kenntnisnahme
öffentlich
öffentlich
06.11.2019
19.11.2019

Bericht:



Finanzielle Auswirkungen


Ergebnishaushalt (zusätzliche Aufwendungen und Erträge):
Maßnahme/Kontengr.
2020
TEUR
2021
TEUR
2022
TEUR
2023
TEUR
2024
TEUR
2025 ff.
TEUR
Stipendien/420
27,0
54,0
54,0
Projektmittel/420
10,0
20,0
20,0
20,0
20,0
20,0
Finanzbedarf
37,0
74,0
74,0
20,0
20,0
20,0
(ohne Folgekosten aus Einzelmaßnahmen, Investitionen oder zusätzlichen Stellen – diese bitte gesondert darstellen)
Stellenbedarf (Mehrungen und Minderungen):
Beschreibung, Zweck, Aufgabenbereich
Anzahl Stellen zum Stellenplan
2020
2021
später
Stelle eines/einer wissenschaftlichen Angestellten in EG 13
1,0

Folgekosten (aus oben dargestellten Maßnahmen und evtl. Stellenschaffungen):
Kostengruppe
2020
TEUR
2021
TEUR
2022
TEUR
2023
TEUR
2024
TEUR
2025 ff.
TEUR
Laufende Erlöse
Personalkosten
85,8
85,8
85,8
85,8
85,8
85,8
Sachkosten
37,0
74,0
74,0
20,0
20,0
20,0
Abschreibungen
Kalkulatorische Verzinsung
Summe Folgekosten
122,8
159,8
159,8
105,8
105,8
105,8
(ersetzt nicht die für Investitionsprojekte erforderliche Folgelastenberechnung!)

Mitzeichnung der beteiligten Stellen

Das Referat WFB hat Kenntnis genommen. Haushalts- und stellenrelevante Beschlüsse können erst im Rahmen der Haushaltsplanberatungen erfolgen.


Erledigte Anträge/Anfragen

Antrag 230/2017 SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN, SÖS-Linke-PluS
Antrag 556/2017 Nr.1 SPD
GRDrs. 1068/2017
Antrag der Sachkundigen Bürgerinnen und Bürger im AKM vom 21.1.2019





Dr. Fabian Mayer
Erster Bürgermeister



Anlagen:

1

1. Erforschung der NS-Geschichte

Im Rahmen der Haushaltsplanberatungen 2018/19 hat der Gemeinderat die Verwaltung beauftragt, zu den Haushaltsplanberatungen 2020/21 einen Projekt- und Finanzierungsplan zur Erforschung der NS-Geschichte der Stadt Stuttgart, ihrer Ämter, Krankenhäuser und Einrichtungen vorzulegen. Priorisiert wurde die Erforschung der Geschichte der Krankenhäuser; zudem sollte die Einbeziehung ehrenamtlich Forschender erläutert werden.

Die Kulturverwaltung hat Prof. Dr. Frank Engehausen mit einem Gutachten über Stand und Perspektiven der NS-Forschung in Stuttgart beauftragt, um eine unabhängige wissenschaftliche Expertise zu gewinnen. Er vertritt an der Universität Heidelberg die „Südwestdeutsche Landesgeschichte des 20. Jahrhunderts“ und hat sich u.a. als Koordinator des Forschungsprojekts „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der NS-Zeit“ intensiv mit der Rolle der öffentlichen Verwaltung in der NS-Zeit befasst.

Engehausen hat Themenfelder mit kommunalem Bezug benannt: NS-Gesundheitspolitik, Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft, „Arisierung“, Stadt- und Raumplanung als Teil des „social engineering“, Personalpolitik im Kontext von sog. Entnazifizierung und Nachkriegsdiskursen sowie Verfolgung der Sinti und Roma ggf. in Verbindung mit der Verfolgung sogenannter Asozialer.

Das Gutachten wurde veröffentlicht, die Ergebnisse öffentlich diskutiert und im Sinne des Antrags weiterentwickelt unter Einbeziehung der ehrenamtlich Forschenden, die zur Erforschung der NS-Geschichte sowie die lokale Erinnerungskultur wichtige, insbesondere einzelfallbezogene Anstöße gegeben haben. Bei den Dissertationsvorhaben soll deshalb die Mitwirkung der Ehrenamtlichen an Gesprächsrunden vereinbart werden.

1.1 Aktuelle Förderprojekte

1.1.1 Städtische Gesundheits- und Sozialpolitik

Medizinverbrechen, Gesundheits- und Sozialverwaltung

Zum Thema Krankenmord („Euthanasie“) liegen bereits zahlreiche Forschungen vor. Des Weiteren wird die Verwaltungsgeschichte des ehemaligen Sozialreferats (Gesundheits-, Wohlfahrts- und Jugendamt) gerade vom Stadtarchiv erforscht. Erstes Ergebnis ist ein Aufsatz über den Leiter des Gesundheitsamts der Jahre 1938-1945 und 1958-1962, Prof. Walter Saleck. Das Beispiel belegt jedoch auch, dass eine isolierte Betrachtung der Jahre 1933-1945 einer systematischen Erforschung und auch der historischen Selbstvergewisserung nicht genügen würde.

Über die Verschärfungen im Sozialwesen seit 1933 ist wiederholt gehandelt worden. Um die konkreten Auswirkungen der verschärften Politik über Erlasse und Anordnungen hinaus auf betroffene Personen(gruppen) valide erforschen und ein Gesamtbild rekonstruieren zu können, bedürfte es jedoch einer genügend großen Zahl vor allem von Einzelfallakten, die jedoch fehlen.

Hier bleibt abzuwarten, ob die Verwaltungsgeschichte des Referats sowie die Einzelfallforschungen zu einem verbesserten Erkenntnisstand beitragen.


Geschichte der Städtischen Krankenhäuser

Eine Geschichte der Städtischen Krankenhäuser ist ein Desiderat. Sie zu erforschen wäre umfassend anzulegen. Einerseits in Bezug auf explizite NS-Aspekte wie personelle Aus- und Gleichschaltungsmaßnahmen, Ausgrenzung von Patientengruppen (Juden, Sinti), andererseits aber auch in Bezug auf die Krankenhäuser als Beschäftigungs- und Behandlungsort von Zwangsarbeiter*innen sowie die Frage einer Mitwirkung an NS-Medizinverbrechen (z.B. Zwangssterilisierung, -abtreibung). Darüber hinaus gehört zu einer systematischen Erforschung ebenso die allgemeine Entwicklung des kommunalen Krankenhauswesens. Die Aktenlage in diesem Bereich ist in hohem Maße defizitär. Deshalb erscheint eine Monographie ein realistisches Ziel.

1.1.2 Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft

Unter den Opfern der Repressions- und Vernichtungspolitik haben in Stuttgart die Zwangsarbeiter*innen bislang wenig Beachtung gefunden. Trotz Studien zu den großen Unternehmen Bosch und Daimler fehlt ein Gesamtbild für die mittelständisch geprägte Stuttgarter Wirtschaft sowie weitere Rüstungsbetriebe. Einzubeziehen ist hierbei auch die Rolle der Stadt.

Das Stadtarchiv hat im Kontext der Stiftungsinitiative allen anfragenden ehemaligen Zwangsarbeiter*innen einen übersetzten Fragebogen (samt internationalem Antwortschein) mit der Bitte zugesandt, ihre persönlichen Erfahrungen zu berichten. Die eingegangenen Antworten sind bisher nur teilweise übersetzt; sie sollen nun im Rahmen eines Werkvertrags für die monographische Studie nutzbar gemacht werden; die Mittel sind im Budget des Stadtarchivs bereitgestellt und werden übertragen.

1.1.3 Kommunale Personalpolitik im Kontext von Kontinuität und „Entnazifizierung“

Für die Geschichte der Kommunalverwaltung im Kontext des NS-Systems mit Anspruch der historischen Selbstvergewisserung ist eine Arbeit über Brüche und Kontinuitäten im städtischen Personalkörper von Bedeutung. Über eine formale Entnazifizierung und das vordergründige Abzählen von NS-Mitgliedschaften hinaus sind in einer breit angelegten Studie die Mechanismen personeller Kontinuität zu rekonstruieren, ist das Spannungsfeld von formeller Entnazifizierung, Personalmangel, damaliger Auslegung des Beamtenrechts und Integrationsvorleistungen „Belasteter“ auszuleuchten. Zudem können dabei auch Erkenntnisse zur Stadtverwaltung in der NS-Zeit gewonnen werden.

1.2 Unterstützung ehrenamtlich Forschender

An ehrenamtlich Forschende, die durch ihre bisherige Arbeit ausgewiesen sind, werden gegen Aufwandsentschädigung Aufträge vergeben für Detailfragen zu rassistischer Verfolgung und Medizinverbrechen. Die Projekte stehen in Bezug zu erinnerungskulturellen Aktivitäten:

· Ermittlung von verstorbenen Kindern von Zwangsarbeiter*innen‘
· Ergänzung der Forschungen zur sog. Kindereuthanasie:
Ermittlung aller dem sog. Reichsausschuss gemeldeten und der ermordeten Kinder;
Klärung der Problematik von evtl. Falschbeurkundungen der Totenscheine

· Sachthematisches Inventar der Quellen zur Verfolgung der Sinti und Roma; Zusammenfassung bisher verstreuter Erkenntnisse (Namen, Wohnorte, etc.)
· Erarbeitung eines „Gedenkbuchs“ der Opfer des Krankenmords mit Namen, Geburtsdatum und -ort, Todesdatum und –ort

1.3 Perspektivprojekte

Zwei weitere relevante Themen wurden im Gutachten sowie in der anschließenden Diskussion identifiziert. Sie haben unmittelbaren Bezug zur Stadtverwaltung, eine sinnvolle und weiterführende Erforschung sollte aber darüber hinaus reichen.

1.3.1 Verfolgung der Sinti und Roma und „Entschädigungspraxis“

Die Opfergruppe der Sinti und Roma hat bisher nicht nur für Stuttgart wenig Beachtung gefunden. Wichtig sind von den Stolperstein-Initiativen benannte Einzelfälle. Bei der Ausgrenzung und Verfolgung spielten auch städtische Dienststellen eine maßgebliche Rolle. Eine wissenschaftliche Studie, die über Einzelschickale hinaus Strukturen eruieren will, kann indes nicht auf Stuttgart begrenzt sein. Sie muss zudem auch über 1945 hinausgreifen. Denn das Ende der NS bedeutete für die Sinti und Roma nicht das Ende der Diskriminierung und wesentliche Erkenntnisse zur Verfolgung vor 1945 lassen sich angesichts der regionalen Quellenlage (wie beim Thema „Arisierung“) primär aus den nach 1945 entstandenen Quellen rekonstruieren.

Sinnvoll erscheint eine Kooperation mit der 2017 an der Universität Heidelberg geschaffenen Forschungsstelle Antiziganismus. Anknüpfen ließe sich auch an die von Stolperstein-Initiativen erforschte Einzelfälle. Die bisherigen verstreuten Erkenntnisse sollen in einem Vorprojekt von ehrenamtlich Forschenden aufbereitet werden.

1.3.2 Kulturelle Institutionen und Netzwerke in Stuttgart

Bei der Diskussion des Gutachtens wurde ein Hinweis auf die defizitäre Erforschung der NS-Geschichte der kulturellen Einrichtungen in der Stadt als substantiell bewertet.

Tatsächlich ist die NS-bezogene Geschichte der großen Stuttgarter Kultureinrichtungen
- Staatstheater, Staatsgalerie und Landesmuseum - nicht und abgesehen von kleineren Beiträgen vornehmlich zur personellen Aus- und Gleichschaltung 1933 nicht umfassend erforscht.


Für die Geschichte der heute städtischen Einrichtungen, fast ausschließlich nach 1945 kommunalisiert, liegen institutionsbezogene Publikationen, meist Aufsätze, vor zum Volksbüchereiwesen, zum Stadtarchiv, zur Musikschule und zum Schauspielhaus. Im Kontext von Gründung und Gleich- und Ausschaltung des Vereins zur Förderung der Volksbildung steht die Volkshochschule. Das Kunstmuseum bereitet überdies für 2020 eine Ausstellung zur Geschichte der NS-Zeit vor.

Trotz der diversen Arbeiten zur Institutionengeschichte fehlt eine Geschichte der Kulturlandschaft im Allgemeinen und der städtischen Politik im Besonderen, wobei sich auch hier die Quellenlage als defizitär darstellt, besonders die Erforschung der sog. freien Szenen der Künstlerschaft aller Disziplinen.

Grundsätzlich ist bei diesem Themenfeld ein größeres Forschungsprojekt mit Einzelstudien in Verbindung mit dem Land und den Institutionen denkbar. Mögliche Projekte sollten in den beiden kommenden Jahren ausgearbeitet werden.

1.4 Sachstand Dissertationsprojekt „Arisierung und Rückerstattung“

Der Gemeinderat hat bei den HH-Beratungen 2018/19 Mittel für ein Dissertationsprojekt „Arisierung und Rückerstattung in Stuttgart“ beschlossen.
Das Stipendium konnte bisher nicht ausgeschrieben werden. Dem Stadtarchiv war zum Zeitpunkt der Beschlussfassung lediglich ein zivilgesellschaftlich initiiertes Projekt zum Thema bekannt, das sich zu einem breit angelegten, vom Landesarchiv und der Landeszentrale für politische Bildung unterstützten Projekt mit mehrfachen Bezügen zu Stuttgart entwickelt hat. Es wird deshalb empfohlen, auf die hierzu erscheinende Publikation zu warten, um entscheiden zu können, ob eine monographische Arbeit sinnvoll ist. Sollte dies nicht der Fall sein, können die Mittel für Projekte im fachlich ähnlichen Arbeitsumfeld umgewidmet werden.

2. Künftige Betreuung der Erinnerungskultur in Stuttgart

Die Sachkundigen Bürgerinnen und Bürger im AKM haben die Einrichtung eines Sachgebiets „Erinnerungskultur“ samt adäquater Ausstattung beantragt. Sie verweisen auf das breite zivilgesellschaftliche Engagement auf ehrenamtlicher Basis sowie die einschlägigen Aktivitäten der öffentlichen Einrichtungen von Stadt und Land.

Trotz städtischer Unterstützung im Einzelnen vermissen sie ein Gesamtkonzept für die Erinnerungskultur, bemängeln Konkurrenzen und Reibungsverluste sowie damit einhergehende Defizite in der Sichtbarmachung von Erinnerungsorten. Folgende unterschiedliche Aufgabenbereiche werden benannt:

1. Erarbeiten eines Gesamtkonzepts Erinnerungskultur, inhaltliche Grundlagen sowie inhaltliche Vorbereitung von Mahnmalen sowie Gedenktagen
2. Wegeleitsystem, Pflege bestehender Erinnerungsorte
3. Moderation eines Arbeitskreises Erinnerungskultur, Koordination öffentlicher und zivilgesellschaftlicher Projekte, Akquise von Fördermitteln

Den Antragstellern ist bewusst, dass dies unterschiedliche Zuständigkeiten und Qualifikationen erfordert. Die Moderation beteiligungsintensiver Arbeitskreise und die Aufrechterhaltung von Stadtdiskursen sind zudem ressourcenintensiv.

Diese Aufgaben, insbesondere die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts, werden im Antrag beim Kulturamt verortet. Diese Aufgabe ist umfassend und bedarf auch breiter Vernetzung, sowohl innerhalb der Stadtverwaltung als auch außerhalb in einer vielschichtig anzusprechenden Stadtgesellschaft. Darüber hinaus entspricht es zeitgemäßen Formen der Erinnerungskultur, das partizipative Element deutlich auch auf Gruppen jenseits des klassischen Ehrenamtes, also beispielsweise auch in Kooperation mit Akteuren der Kinder- und Jugendkultur, auszuweiten. Zudem erweitert sich bundesweit die Erinnerungskulturarbeit auch auf die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und beschränkt sich zunehmend nicht nur auf die NS-Zeit und ihre direkten Auswirkungen. Ein weiterer Fokus wird daher auch auf kulturhistorische Entwicklungen zu richten sein.

Für die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts „Stadtgeschichte und Erinnerungskultur“ sowie die mit dem Thema verbundenen wissenschaftliche Grundlagenarbeit sind beim Kulturamt die entsprechenden Personalressourcen zu schaffen.

Da wie geschildert die Erwartungshaltung und der potentielle Kreis der Mitwirkenden stetig steigen, sind Mittel für in erster Linie partizipativ angelegte Projekte entscheidend für den Erfolg und die Sichtbarkeit der Arbeit im gesamten Stadtraum. Zur Umsetzung von ersten Projekten - auch mit Beteiligungscharakter - und für Aufwandsentschädigungen ehrenamtlich Tätiger sollten Mittel in Höhe von 20.000 Euro/Jahr bereitgestellt werden.
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