Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Allgemeine Verwaltung/Kultur und Recht
Gz: AKR 0336-00
GRDrs 1208/2017
Stuttgart,
11/28/2017



Haushalt 2018/2019

Unterlage für die 2. Lesung des Verwaltungsausschuss zur nichtöffentlichen Behandlung am 04.12.2017



Anträge auf "Aktuelle Stunde" im Gemeinderat und Videoaufzeichnung aller öffentlichen Sitzungen des Gemeinderats und der beschließenden Ausschüsse

Beantwortung / Stellungnahme


1. Antrag auf Einführung einer Aktuellen Stunde einmal im Monat bzw. jede zweite Gemeinderatssitzung

Aktuelle Stunden sind typischerweise Formate der Diskussion in Parlamenten im staatsrechtlichen Sinne (Bundestag und Landtage). Im Gegensatz zu diesen Parlamenten ist der Gemeinderat der Landeshauptstadt Stuttgart in seiner Sitzungsgestaltung nicht frei. Er unterliegt als Verwaltungsorgan vielmehr den Regelungen der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg (GemO). So kann der Gemeinderat nur über ordnungsgemäße, in konkreter Form auf die Tagesordnung gesetzte Themen ausführlich debattieren.

Soweit die Antragssteller zusätzlich zu den „Schwerpunktthemen“ aktuelle politische Themen diskutieren möchten, kann es dementsprechend nicht so sein, dass unter einem allgemeinen Tagesordnungspunkt „Aktuelle Stunde“ jedwede, nicht konkret auf der Tagesordnung stehenden Themen ausführlich behandelt werden. So sieht die GemO vor, dass die Einwohner stets rechtzeitig vorher über die konkreten Themen, die der Gemeinderat verhandelt, informiert werden.

Gerade auch vor diesem Hintergrund wäre im Rahmen der in der Vision 2030 angeregten sogenannten Generaldebatten über Grundsatzthemen, die - im Gegensatz zur klassischen Aktuellen Stunde z. B. im Bundestag - vorab verabredet sein würden, ein längerer Vorlauf, der auch eine Vorbereitung der Themen durch die Verwaltung beinhalten würde, vorgesehen. Es würde jeweils u. a. durch eine fristgemäße Veröffentlichung der vom Oberbürgermeister aufgestellten Tagesordnung, welche das zu diskutierende Thema konkret benennen würde, im Amtsblatt eine rechtzeitige Information der Einwohner erfolgen.

Bereits jetzt kann durch die Fraktionen bzw. ein Sechstel des Gemeinderats erreicht werden, dass ein Thema – auch ohne dass eine konkrete Entscheidung ansteht – auf die Tagesordnung der übernächsten Sitzung des Gemeinderats gesetzt wird.

Im Übrigen ist es Sache des Oberbürgermeisters ob er vorher entsprechende Themen in die Tagesordnung der kommenden Sitzung mit aufnimmt.

Inhaltlich wird es von Seiten der Verwaltung als sinnvoller angesehen, wenn abgesehen von den avisierten Generaldebatten im Rahmen von konkret anstehenden Entscheidungen des Gemeinderats ausführlich und öffentlichkeitswirksam diskutiert wird.


2. Videoaufzeichnung und Bereitstellung im Internet

Eine zulässige Videoaufzeichnung (mit Ton) aus einer Sitzung des Gemeinderats bzw. seiner Ausschüsse und das Bereitstellen dieser Aufzeichnung ins Internet setzt zunächst voraus, dass der Oberbürgermeister dem zustimmt; er ist hierzu nicht verpflichtet.

Die Videoaufzeichnung stellt nach der derzeitigen Rechtslage eine Datenverarbeitung durch die Gemeinde dar, die nur mit Einwilligung der betroffenen Personen zulässig ist. Alle an den Sitzungen beteiligten Personen, also insbesondere Mitglieder des Gremiums und die Beigeordneten, müssten über die Übertragung aufgeklärt werden und zu Aufnahmen ihrer Person in zulässiger Weise vorab schriftlich ihre Zustimmung erteilen. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung darf eine Aufzeichnung der betroffenen Person nicht erfolgen.

Nach Ansicht der Landesdatenschutzbeauftragten können Mitarbeiter der Gemeinde - mit Ausnahme von besonders hervorgehobenen Führungskräften (z. B. Bürgermeister) - nicht in Videoaufzeichnungen von Gremiensitzungen einwilligen, da eine freiwillige Einwilligung auf Grund ihres Dienst- bzw. Arbeitsverhältnisses nicht möglich sei. Ggf. müsste im Detail in Bezug auf die herausgehobenen Führungskräfte eine Abklärung mit dem Landesdatenschutzbeauftragten erfolgen. Diese Einschränkung für Mitarbeiter gilt entsprechend für externe Referenten. Mitarbeiter und Externe müssten also von der Aufzeichnung ausgeschlossen sein bzw. später aufwendig gelöscht oder geschwärzt werden.

Weiterhin darf keine Aufzeichnung von Sitzungsteilen erfolgen, in denen personenbezogene Daten im Sinne des Landesdatenschutzgesetzes Baden-Württemberg zur Sprache kommen. Die Offenbarungsbefugnis des § 35 GemO bezieht sich ausschließlich auf die Saalöffentlichkeit im Rahmen einer Sitzung. Die Videoaufzeichnung müsste bei entsprechenden Punkten dann entweder unterbrochen werden oder die personenbezogenen Daten müssten mit erheblichem Aufwand anonymisiert werden.

Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass eine erteilte Einwilligung jederzeit ohne Angabe von Gründen auch für einzelne Passagen und bei Aufzeichnungen zudem auch nachträglich widerrufen werden kann.

Alles in allem ist angesichts dieser rechtlichen Rahmenbedingungen die von den Antragsstellern vorgesehene reine Widerspruchslösung nicht darstellbar.

Aus Sicht der Verwaltung kommt eine Videoaufzeichnung von Sitzungen der gemeinderätlichen Gremien nur dann überhaupt in Betracht, wenn (beinahe) alle Mitglieder des Gemeinderats und alle Beigeordneten grundsätzlich bereit sind, in eine solche Aufzeichnung schriftlich einzuwilligen. Sollten nicht beinahe alle Beteiligten einwilligen, würde sich eine Verzerrung der Diskussion im Gemeinderat ergeben, so dass sich die Frage stellt, ob der Oberbürgermeister eine solche eingeschränkte und verzerrende Aufzeichnung überhaupt zulassen sollte.

Selbst wenn die erforderlichen grundsätzlichen Einwilligungen für die Dauer einer Wahlperiode bzw. Amtszeit vorlägen, wären neben den oben genannten rechtlichen, insbesondere datenschutzrechtlichen Aspekten auch zahlreiche technische Aspekte zu berücksichtigen. Eine Umsetzung in der Stuttgarter Praxis müsste so erfolgen, dass ein gewisser Qualitätsanspruch gewährleistet werden kann. Nur dadurch könnte das Ziel erreicht werden, dass möglichst viele Nutzer von diesem mit erheblichem Aufwand verbundenen Angebot auch Gebrauch machen.

In einem ersten Schritt wäre zunächst festzustellen, ob (beinahe) alle Mitglieder des Gemeinderats bereit sind, grundsätzlich in eine Videoaufzeichnung einzuwilligen. Dies muss in einer die freie Entschließung nicht beeinträchtigenden Art und Weise erfolgen. So könnte zunächst in einer geheimen Abstimmung im Gemeinderat anonym die Einwilligungsbereitschaft abgefragt werden. Sollte hierbei eine überwältigende Mehrheit die Frage mit Ja beantworten, könnten sodann die schriftlichen Einwilligungserklärungen eingeholt werden. Es wäre sodann Sache des Oberbürgermeisters, anhand der Zahlen zu entscheiden, ob eine Zulassung der generellen Videoaufzeichnung und Bereitstellung im Internet seinerseits erfolgt. Sichergestellt werden muss dabei, dass kein öffentliches an den Pranger stellen derjenigen Mitglieder des Gemeinderats erfolgt, die keine Einwilligung erteilen. Zudem wäre nach jeder Neuwahl des Gemeinderats aufs Neue abzuklären, ob eine Einwilligung erteilt wird.

Im Falle der Zulassung durch den Oberbürgermeister wäre dann konzeptionell zu klären, wie die Videoaufzeichnungen technisch und organisatorisch sinnvoll umgesetzt werden können, und welche Auswirkungen diese auf den Workflow innerhalb der Verwaltung, aber auch für den Ablauf der Ausschuss- und Gemeinderatssitzungen hat. Zu klären wären dann Fragen wie die feste Installation von Kameras, aber auch zum Umgang mit Präsentationen bzw. Vorträgen Dritter sowie dem Schutz von Persönlichkeitsrechten externer wie interner Redner und die Barrierefreiheit. Über die weitere Vorgehensweise müsste dann der Gemeinderat entscheiden.

Eine tatsächliche Kostenschätzung kann erst nach einer genauen konzeptionellen Betrachtung erfolgen. Basierend auf den Erfahrungen der Livestream-Übertragungen zum aktuellen Doppelhaushalt wird von Kosten pro Aufzeichnung von 2.000 bis 4.000 Euro ausgegangen. Ausgehend von 165 beschließenden Sitzungen pro Jahr und mindestens 2.000 Euro je Sitzung, müsste die Leistung, sofern nicht die entsprechenden hausinternen Voraussetzungen geschaffen würden (s. u.) – angesichts von Kosten in Höhe von mindestens 330.000 € im Jahr EU-weit ausgeschrieben werden. Neben der Dienstleistung „Videoproduktion“ entstehen verwaltungsintern ganzjährig erhebliche Aufwände hinsichtlich Abstimmung, Organisation, Bearbeitung des Videomaterials, Prüfung auf Datenschutzkonformität und Koordination innerhalb der Verwaltung. Gerade auch die Bearbeitung von jederzeit möglichen Widerrufen erteilter Einwilligungen, wäre sehr aufwendig. In den Sitzungswochen finden mehrmals, teilweise bis zu sieben Sitzungen, die zur Video-Aufzeichnung vorgesehen wären, statt. Die Verwaltung geht bei der Umsetzung dieser neuen Aufgabe durch eine externe Firma von einem zusätzlichen Personalaufwand innerhalb der Verwaltung von bis zu 2,0 Vollzeitstellen aus, der in der vorgenannten Konzeption - auch hinsichtlich der Wertigkeit - noch detailliert dargestellt werden müsste.

Alternativ zur Vergabe könnten auch hausintern die Voraussetzungen für Videoaufzeichnungen der Gremiensitzungen geschaffen werden. Eine dieser Voraussetzungen wäre die Ausstattung aller Sitzungssäle mit Kameras. Bisher ist nur der Große Sitzungssaal grundsätzlich mit Kameras ausgerüstet, wobei auch hier zu prüfen wäre, inwieweit die bestehende Kameraausstattung für eine rechtskonforme Umsetzung geeignet ist. Unterstellt, dass die bestehenden Kameras im Großen Saal geeignet sind, wäre für eine Nachrüstung des Mittleren und Kleinen Sitzungssaals mit jeweils zwei Kameras und entsprechender Verkabelung nach einer ersten Grobschätzung der Verwaltung mit Investitionskosten in Höhe von ca. 17.000 Euro zu rechnen; hinzu kämen Einbaukosten durch eine Fachfirma. Zusätzlich entstünde über den oben genannten Personalbedarf hinaus weiterer Personalmehrbedarf beim Sitzungsdienst. Denn für die Bedienung der Kameras müsste jeweils ein Mitarbeiter im Saal abgestellt werden, der für andere Aufgaben während dieser Zeit nicht zur Verfügung stünde. Entsprechende Stellenkapazitäten beim Sitzungsdienst müssten abhängig von der Zahl der parallel stattfindenden Veranstaltungen, für diese neue Aufgabe geschaffen werden. Eine genaue Aussage zum Stellenbedarf beim Sitzungsdienst kann erst im Zusammenhang mit der vorgenannten Konzeption getroffen werden.

Angesichts des erheblichen Aufwandes und des Umstandes, dass - anders als in anderen Bundesländern - in Baden-Württemberg bisher keine vereinfachten Regelungen für die Medienöffentlichkeit im Internet durch den Gesetzgeber geschaffen worden sind, ist es aus Sicht der Verwaltung derzeit nicht sinnvoll, in die Videoaufzeichnung und die Bereitstellung im Internet einzusteigen. Seit Mitte November hat auch die Gemeinde Seelbach, die lange Zeit Vorreiter i. S. Medienöffentlichkeit der Gemeinderatssitzungen war, das entsprechende Angebot wieder eingestellt; außer der Stadt Konstanz erfolgt derzeit in keiner anderen Kommune in Baden-Württemberg eine Videoaufzeichnung von Sitzungen mit Bereitstellung im Internet.

Gerade auch angesichts der Umstände, dass
1. der Landesdatenschutzbeauftragte ein Archiv für vergangene Sitzungen für bedenklich hält,
2. im Jahr 2018 die EU-Datenschutzgrundverordnung in Kraft tritt und die weitere Entwicklung und die Umsetzung derselben im Landesrecht abzuwarten bleibt und
3. die Umsetzung einen erheblichen Aufwand mit sich bringen würde,
schlägt die Verwaltung vor, die Videoaufzeichnung derzeit nicht weiter zu verfolgen.




Vorliegende Anträge/Anfragen

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646/2017 und 647/2017 SÖS-LINKE-PluS




Dr. Fabian Mayer
Bürgermeister




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