2. Vom zusätzlichen vordringlichen und unabweisbaren Personalbedarf ab 01.07.2023 in Höhe von insgesamt 3,5 VZK, davon 1,0 in Besoldungsgruppe A12 und 2,5 in Besoldungsgruppe A10, wird Kenntnis genommen. Die Entscheidung über die Stellenschaffungen ist im Vorgriff auf den Stellenplan 2024 zu treffen.
3. Den entsprechenden überplanmäßigen Personalaufwendungen im Haushaltsjahr 2023 wird, wie im Abschnitt „Finanzielle Auswirkungen dargestellt, zugestimmt. Diese werden durch Sperrung von Mitteln der allgemeinen Deckungsreserve, Teilergebnishaushalt 900 Allgemeine Finanzwirtschaft, Amtsbereich 9006120 Sonstige Allgemeine Finanzwirtschaft, Kontengruppe 440 - Sonstige ordentliche Aufwendungen – gedeckt. Kurzfassung der Begründung: Ausführliche Begründung siehe Anlage 1 Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG): Einführung des Verfahrenslotsen
1. Einleitung
Die Verwaltung hat mit GRDrs 1317/2021 am 13.12.2021 im Jugendhilfeausschuss über das Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) am 09.06.2021, die zentralen Schwerpunktthemen und über die Umsetzung verbesserten Kinder- und Jugendschutz im Rahmen des KJSG in Stuttgart berichtet.
Dabei wurde u. a. auch dargestellt, dass zwei Regelungen, die die inklusive Gestaltung des Sozialgesetzbuches Achtes Buch (SGB VIII) nach dem Grundsatz „Hilfen aus einer Hand“ betreffen, erst später in Kraft treten:
· Die Gesamtzuständigkeit des SGB VIII für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen (seelisch, körperlich, geistig) im Rahmen der sog. „großen“ oder inklusiven Lösung wird zum 01.01.2028 erfolgen, wenn ab dem 01.01.2027 ein entsprechendes Bundesgesetz die Gesamtzuständigkeit im Detail regelt.
2. Leistungen des § 10b SGB VIII Verfahrenslotsen zur Vermittlung von Eingliederungshilfeleistung
Die Regelung des neuen § 10b Verfahrenslotse zur Vermittlung von Eingliederungshilfeleistung besteht aus zwei Absätzen, die unterschiedliche Aufgaben verbindlich festlegen, die vom örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Jugendamt) erbracht werden müssen.
Absatz 1 regelt Ansprüche von Leistungsberechtigten auf:
(1) Junge Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe wegen einer Behinderung oder wegen einer drohenden Behinderung geltend machen oder bei denen solche Leistungsansprüche in Betracht kommen, sowie ihre Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigten haben bei der Antragstellung, Verfolgung und Entgegennahme dieser Leistungen Anspruch auf Unterstützung und Begleitung durch einen Verfahrenslotsen. Der Verfahrenslotse soll die Leistungsberechtigten bei der Verwirklichung von Ansprüchen auf Leistungen der Eingliederungshilfe unabhängig unterstützen sowie auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirken. Diese Leistung wird durch den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe erbracht.
Des Weiteren müssen persönliche Kooperationsbeziehungen zu Partnerinnen und Partnern aufgebaut werden, die für die Erbringung der Leistungen des Verfahrenslotsen relevant sind. Hierzu gehören nicht nur die oben genannten Dienste im Jugendamt und in der Stadtverwaltung, sondern beispielsweise auch Leistungserbringer (z. B. freie Träger der Eingliederungshilfe), Kindertageseinrichtungen und Schulen.
Mit Blick auf die Gestaltung der Jugendhilfe aus einer Hand zum 01.01.2028 ist die Berichtspflicht von großer Bedeutung. Diese bildet einen wichtigen Baustein in der Entwicklung einer inklusiven Jugendhilfe über das Jugendamt hinaus. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde in einer gemeinsamen referats- und ämterübergreifenden Klausur der Referate Jugend und Bildung sowie Soziales und Integration am 26.04.2022 gemacht. Am 18.10.2022 wird eine weitere Klausur folgen.
Anforderungsprofil und Kompetenzen der Fachkraft (Verfahrenslotse)
Zu berücksichtigen ist zum einen das Fachkräftegebot basierend auf § 72 SGB VIII und zum anderen das notwendige inhaltliche Fachwissen bezüglich der Aufgabenstellung. Das Anforderungsprofil bzw. die notwendigen Kompetenzen der Fachkraft ergeben sich aus den gesetzlichen Aufgabenbeschreibungen. Basis bildet das Fachwissen, das jede Fachkraft im sozialen Dienst (Beratungszentren) des Jugendamtes haben muss. Beispielhaft sind zu nennen, wie Wissen über die rechtlichen Grundlagen des SGB VIII, Hilfen zur Erziehung, Hilfeplanung, Kinderschutz, Fachwissen über Sozialraumressourcen. Zur Wahrnehmung der Steuerungsverantwortung benötigen Fachkräfte u.a. kommunikative Fähigkeiten, Methoden- und Netzwerkkompetenz und notwendige Kenntnisse zur Bearbeitung der Anliegen, beispielsweise über:
- Gesetzliche Grundlagen (z. B. § 35a SGB VIII, SGB IX) und deren Anwendung
- Vorrang/Nachrang gemäß § 10 SGB VIII bzw. §§ 9, 91 SGB IX
- Psychiatrische Krankheitsbilder und deren Handhabung in der Hilfeplanung
- Formen von körperlichen und geistigen Behinderungen sowie die Diagnostik der Teilhabebeeinträchtigung
- Relevante Rechtsprechung zur Zuständigkeit im Rehabilitationsbereich
- Grundkenntnisse über das bio-psycho-soziale Modell der Gesundheit
- Summarische Grundkenntnisse der Sozialgesetzbücher, der Regelungen zur Kostenheranziehung und der Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR).
Zur Erfüllung des gesetzlichen Auftrags auf der Grundlage des § 10b SGB VIII ist eine Differenzierung hinsichtlich der Aufgabenschwerpunkte vorzunehmen. Der Anspruch auf einen Verfahrenslotsen im Sinne von § 10b Abs. 1 SGB VIII erweitert den Beratungsanspruch nach § 10a Abs.1 und Abs. 2 SGB VIII unter besonderer Beachtung der fachlichen und verfahrensrechtlichen Herausforderungen aus dem Bereich der Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX und § 35a SGB VIII.
Eine Orientierung in dem nach unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen gegliederten komplexen Sozialleistungssystem stellt daher für Kinder und Jugendliche mit (drohender) Behinderung und ihre Familien, die ohnehin im Alltag große Herausforderungen zu bewältigen haben, eine zusätzliche Belastung dar, bei deren Bewältigung sie eines Unterstützungsangebots im Hinblick auf die Geltendmachung ihrer Rechte bzw. Leistungsansprüche und damit ihren Zugang zur Leistungsgewährung bedürfen.
Leistungsberechtigte haben oftmals Schwierigkeiten, im gegliederten Sozialleistungssystem die richtige Behörde zu finden. Durch die Etablierung der Funktion des Verfahrenslotsen zur Begleitung und Unterstützung bei der Geltendmachung von Ansprüchen auf Leistungen der Eingliederungshilfe sollen diese Hürden überwunden und junge Menschen mit (drohenden) Behinderungen und ihre Familien, die dieses Angebot der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen wollen, deutlich entlastet werden. Zudem ist die Aufgabe der Verfahrenslotsen, die Adressatengruppe durch das gesamte Verfahren – vom Antrag bis zum Abschluss der Leistungsgewährung – zu begleiten.
Daneben besteht neben den Fachkräften mit (rechtlich, fundierten) beraterischen Kompetenzen im operativen Bereich gemäß § 10b Abs. 1 SGB VIII auch der gesetzliche Auftrag entsprechend § 10b Abs. 2 SGB VIII, den örtlichen Träger der Jugendhilfe mit entsprechenden Ressourcen auszustatten, um den Veränderungsprozess hin zur sogenannten „Inklusiven Lösung“ zu unterstützen und zu begleiten. Im Zusammenhang mit diesem Transformationsprozess der öffentlichen Jugendhilfe und der Gewährleistung des Wissenstransfers fallen planerische, strategische, koordinierende sowie konzeptionelle Tätigkeiten an. Hierzu erstattet der Verfahrenslotse insbesondere dem örtlichen Träger der Jugendhilfe halbjährlich Bericht wie z.B. über Erfahrungen mit dem Funktionieren der strukturellen Zusammenarbeit, die im Zuge aller beraterischen bzw. koordinierenden Tätigkeiten an der Schnittstelle zu anderen Leistungsträgern gesammelt wurden. Diese Berichterstattung soll auch als Grundlage für Maßnahmen zur Schnittstellenoptimierung dienen.
Eine endgültige organisatorische Zuordnung der Verfahrenslotsen steht noch nicht fest. Bei der Zuordnung ist insbesondere auf die erforderliche Niederschwelligkeit des Zugangs zum Verfahrenslotsen und auf die ausdrücklich gesetzlich verankerte Unabhängigkeit zu achten.
Voraussichtlich erforderlicher Stellenumfang
Der Stellenumfang ergibt sich zum einen aus der zu erwartenden Inanspruchnahme der Verfahrenslotsen im Verhältnis zur Bevölkerung und zum anderen aus übergeordneten Aufgaben zum Aufbau der Leistung sowie im Rahmen der Kooperation und Berichtspflicht.
Aus der Gesetzesbegründung zum KJSG (BT-Drucksache 19/26107) ergibt sich ein Anhaltspunkt für den Personalbedarf für die Aufgabe des Verfahrenslotsen. Es wird dabei unterstellt, dass jährlich in bundesweit 301.032 Fällen mit einem Zeitaufwand von je 60 Minuten die Leistung durch Verfahrenslotsen in Anspruch genommen wird. Der Anteil der Landeshauptstadt Stuttgart an der Gesamteinwohnerzahl in Deutschland beträgt rd. 0,76 %, so dass auf Stuttgart jährlich rechnerisch 2.288 von den genannten 301.032 Fällen entfallen würden.
Die aktuellen Fallzahlen in Stuttgart bewegen sich in der Größenordnung der o.a. Hochrechnung und stellen sich im Verlauf des Jahre 2021 wie folgt dar:
Allerdings ist in Fachkreisen die unterstellte Bearbeitungsdauer von 60 Minuten je Fall hoch umstritten. Andere Kommunen setzen mindestens die doppelte Bearbeitungsdauer, also 2 Stunden an. Bei einer Bearbeitungsdauer von 2 Stunden und 2.355 Fällen pro Jahr ergibt sich ein jährlicher Bearbeitungsaufwand von 4.710 Stunden. Aktuell sind nach RdSchr. 21/2022 pro Vollzeitkraft Beamte (VZK) 1.705 Jahresarbeitsstunden zu leisten. Bei einem Abschlag von 20% für Rüstzeiten und nicht-fallbezogene Tätigkeiten, verbleiben 1.364 Stunden für die reine Fallarbeit, d.h. bei 4.710 Stunden Zeitaufwand für die Leistung des Verfahrenslotsen werden rd. 3,45 VZK benötigt.
Hinzu kommt, ebenfalls laut Schätzung in der Gesetzesbegründung, der Zeitaufwand für die Berichterstattung nach § 10 b Abs.2 SGB VIII im Umfang von 2.400 Minuten (40 Stunden) je Bericht. Bei zwei Berichten jährlich entspricht dies einem Bedarf von 0,05 VZÄ.
Insgesamt ergibt dies einen Stellenbedarf von rd. 3,5 VZK. Hiervon entfallen 1,0 VZK in Besoldungsgruppe A 12 für die planerischen/koordinierenden/strategischen Aufgaben und 2,5 VZK in Besoldungsgruppe A 10 für beraterische/operative Aufgaben der Verfahrenslotsen an.
Es werden für die Stellenschaffung explizit Beamtenstellen vorgeschlagen, da das Aufgabenprofil sowohl von entsprechend qualifizierten Verwaltungsfachkräften bzw. sozialpädagogischen Fachkräften erfüllt werden kann und somit eine flexible Stellenbesetzung möglich ist.
Dringender Handlungsbedarf
Das KJSG schreibt die Bereitstellung der Leistung der Verfahrenslotsen bis zum 01.01.2024 vor. Die Einführung benötigt zwingend einen gewissen Vorlauf (s. oben) insbesondere im Hinblick auf Absprachen/Vereinbarungen mit den Leistungsträgern in der Eingliederungshilfe sowie für die entsprechende Schulung der Verfahrenslotsen im komplexen Rechtsgebiet der Teilhabeleistungen. Zudem ist fraglich, ob aufgrund des allgemeinen Fachkräftemangels, der sich inzwischen auch im Bereich der Sozialen Arbeit bemerkbar macht, alle Stellen rechtzeitig vor Inkrafttreten des Leistungsanspruchs besetzt werden können. Insofern ist die Stellenschaffung zum 01.07.2023 im Vorgriff auf den Stellenplan 2024/2025 zur Sicherstellung des gesetzlichen Anspruchs ab 01.01.2024 zwingend erforderlich. Finanzielle Auswirkungen Die Personalaufwendungen für 3,5 VZÄ in (1 A12 und 2,5 A10) betragen ab 01.07.2023 maximal 171.450 EUR.