Protokoll: Verwaltungsausschuss des Gemeinderats der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
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VerhandlungDrucksache:
GZ:
Sitzungstermin: 21.02.2024
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: EBM Dr. Mayer
Berichterstattung:
Protokollführung: Frau Schmidt as
Betreff: "Zweiter Versuch: Stuttgart setzt ein Zeichen für eine menschliche Flüchtlingspolitik"
- gemeins. Antrag Nr. 6/2024 vom 19.01.2024
[90/GRÜNE, SPD, Die FrAKTION, PULS, StRin Yüksel
(Einzelstadträtin)]

Der im Betreff genannte Antrag ist dem Originalprotokoll sowie dem Protokollexemplar für die Hauptaktei beigefügt.


Nach einer kurzen Unterbrechung der Sitzung ruft EBM Dr. Mayer den Tagesordnungspunkt 14 auf und übergibt das Wort an StR Winter (90/GRÜNE). Dieser begründet den Antrag und betont die unterstützende Mehrheit des Gemeinderates. Der Stadtrat zeigt sich verärgert über die Stellungnahme des Oberbürgermeisters und plädiert dafür, einen entsprechenden Beschluss gemäß dem Antrag zu fassen. Zur Frage der rechtlichen Zulässigkeit verweist er auf einige Städte in Baden-Württemberg, die bereits eine Patenschaft übernommen hätten; es handle sich um eine politische Entscheidung. Der Bitte, im nachfolgenden Gemeinderat am 22.02.2024 den Beschluss zu fassen, sei OB Dr. Nopper ebenfalls nicht nachgekommen. Er bedauere sehr, dass eine solche mehrheitliche Botschaft "weggewischt" werde. Die unterzeichnenden Fraktionen wollten heute ein Zeichen setzen.

Aus Sicht von OB Dr. Nopper ist eine solche Patenschaft rechtlich nicht möglich, da es sich um einen Verstoß gegen das Örtlichkeitsprinzip handle, weswegen er eine Unterstützung des Antrages nicht empfehlen könne. Ein Antrag bedeute auch nicht immer zwingend, dass eine Mehrheit zustande komme, denn im Verlauf eines Beratungsprozesses könne stets zu besserer Erkenntnis gelangt werden. Die Finanzhoheit der Kommune beschränke sich auf Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft; die Übernahme einer Schiffspatenschaft sei im rechtlichen Sinne eine Geldspende außerhalb des eigenen Wirkungskreises und damit ein Verstoß gegen das Örtlichkeitsprinzip. Dies gelte auch bei humanitären Hilfsleistungen. Zulässig seien nur Geldspenden mit klarem Bezug zum eigenen Gemeindegebiet, etwa im Zusammenhang mit der Unterbringung von Geflüchteten oder kommunalen Partnerschaften. Darüber hinaus setze man mit einer solchen Patenschaft falsche Anreize; es müsse Ziel sein, möglichst wenige Menschen zum Besteigen von nicht seetüchtigen Schiffen im Mittelmeer zu veranlassen. Mit einer Schiffspatenschaft werde das falsche Signal gesetzt.

Auch wenn der Oberbürgermeister in der Sache und in der rechtlichen Frage anderer Meinung sei, so StR Winter, bestehe eine Mehrheit für diesen Antrag. Es gehe nicht darum, Menschen zum Besteigen unsicherer Schiffe aufzufordern oder für den Seeweg zu werben, sondern darum, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Die politischen Gremien seien dafür da, über solche Themen zu diskutieren, und die unterstützenden Fraktionen wollten dieses Zeichen setzen.

Die erste Antragsbeantwortung (siehe dazu Antrag Nr. 176/2023) grenzt für StRin Meergans (SPD) an Arbeitsverweigerung. Wenn etwas beantragt werde, meinten die Antragsteller dies stets ernst. Die heutigen Ausführungen hätten bereits in dieser Beantwortung enthalten sein können, was auch Auswirkungen auf die Diskussion gehabt hätte. Die Stadt Konstanz habe bereits eine Patenschaft übernommen, und sie wolle wissen, ob dort Informationen zur Umsetzung eingeholt worden seien. Es fehle auch die Stellungnahme des Regierungspräsidiums. Die Haltung des Oberbürgermeisters deklariert sie als "zynisch", denn niemand besteige ein Boot über das Mittelmeer, nur weil die Stadt Stuttgart eine Schiffspatenschaft übernommen habe. Es sei humanitäre Verpflichtung und ein Gebot der Menschlichkeit, Menschen in Seenot zu retten. Sie hofft auf einen gemeinsamen Weg und bittet um mehr Kreativität der Verwaltung, dem Wunsch der politischen Mehrheit nachzukommen.

StRin Tiarks (Die FrAKTION LINKE SÖS PIRATEN Tierschutzpartei) empfindet die Reaktion auf den Antrag als Missachtung des höchsten demokratischen Gremiums in Stuttgart, das den Antrag mit einer Mehrheit gestellt habe. Gerade in Zeiten, in denen die Demokratie durch Rechtsextreme angegriffen werde, sei es die Aufgabe des Oberbürgermeisters, demokratische Grundhaltung zu zeigen und entsprechend mit Anträgen der Mehrheit des Gemeinderates umzugehen. Sie betont, der Antrag sei ernst gemeint und müsse im Gemeinderat thematisiert werden. Zur Notwendigkeit des örtlichen Bezuges führt sie aus, es gebe in Stuttgart viele Menschen, die über das Mittelmeer geflüchtet seien. Wenn OB Dr. Nopper den Antrag ablehne, handle er gegen den Zusammenhalt von allen Menschen in Stuttgart, zu denen auch die Geflüchteten gehörten. Weil es keine sicheren Wege zur Flucht gebe, würden jährlich über 1.000 Menschen vermisst; der UNHCR gehe von 3.760 Toten im Jahr 2023 aus. Wenn nun der ehemalige Frontex-Chef für eine rechtsextreme Partei in Frankreich kandidiere, zeige dies eine Haltung, wie Frontex agiere, anstatt für die Sicherheit von Menschen im Mittelmeer zu sorgen. Zivile Seenotrettung gleiche die Versäumnisse auf EU-Ebene aus. Aus diesem Grund müsse Stuttgart ein Zeichen für eine menschliche Flüchtlingspolitik setzen.


Aus Sicht von StR Ozasek (PULS) ist die Rechtsposition des Oberbürgermeisters rein zweckrational und parteipolitisch gewählt. Es finde gegenwärtig ein Überbietungswettbewerb statt, in dem polemisch und aggressiv Migration als Problem markiert werde, um Wahlkämpfe zu führen. Er verweist gemäß § 28 des Grundgesetzes auf die Universalzuständigkeit der Kommune, die als Grundsatz gelte. Der Antrag stehe im Sachzusammenhang mit dem 2018 gefassten Beschluss, der Seebrücke beizutreten und zusätzlich geflüchtete Menschen in Stuttgart aufzunehmen. Somit sei das Örtlichkeitsprinzip gegeben. Es gehe nicht nur um eine Geldspende, sondern darum, aktiv Menschen zu retten und das Menschenrecht auf Asyl zu gewährleisten. Im Mittelmeer würden die europäischen Werte begraben, weshalb es so wichtig sei, als Stadt ein klares Signal zu senden und das Thema zu einer kommunalen Angelegenheit zu machen. Die Kandidatur des ehemaligen Direktors von Frontex für den französischen Rassemblement national zeige klar, welcher Geist in der Frontex-Agentur herrsche; illegale Pushbacks seien vielfach dokumentiert worden und die Antikorruptionsbehörde OLAF (Office Européen de Lutte Anti-Fraude) ermittle gegen Frontex. Stuttgart müsse mit dem Beschluss als weltoffene Stadt markiert werden und man wolle die Unterstützung gegenüber ziviler Seenotrettung aktiv aussprechen. Er fordert den Oberbürgermeister auf, aktiv an einem Beschluss mitzuwirken, weshalb das Thema in die Tagesordnung einer Gemeinderatssitzung aufgenommen werden müsse.

An die intensive Diskussion im Ältestenrat zum Thema Winterhilfe (Aggregate, Decken, Lebensmittel usw.) für die Ukraine, erinnert StR Kotz (CDU). Dazu sei mehrfach kommuniziert worden, dies sei rechtlich nicht möglich. Insofern sei die Überraschung über die heutigen Aussagen des Oberbürgermeisters zumindest für seine Fraktion "überschaubar groß". Wenn es der Mehrheit mit ihrem Anliegen ernst sei, hätte der Stadtrat einen Haushaltsantrag erwartet. Es sei sinnvoll und richtig, dass eine Kommune ihre Finanzmittel darauf konzentriere, was auch die Kommune betreffe. Es dürfe die Frage gestellt werden, ob die 10.000 EUR in der Seenotrettung das effektivste Mittel seien zur Rettung von Menschenleben oder nicht besser Patenschaften für Kinder, Ernährung oder das Gesundheitssystem übernommen werden sollten. Er könne den Wunsch der Weltoffenheit zur Unterstützung der Demokratie zwar nachvollziehen, sehe aber in Deutschland momentan die Gefahr, dass weitere Unterstützung von illegaler, unkontrollierter Zuwanderung gegen die Demokratie in diesem Land wirke. Der Demokratie in Deutschland und Stuttgart sei mehr geholfen, wenn der Antrag abgelehnt werde.

StR Dr. Oechsner (FDP) ist nach wie vor von der Richtigkeit des Beitritts zur Potsdamer Erklärung überzeugt. Mit dem neuerlichen Antrag werde jedoch über das Ziel hinausgeschossen. Die Frage, extern eine Patenschaft zu übernehmen, halte er für nicht zweckdienlich, denn zum einen sei deren Wirkung nicht gesichert, zum anderen habe die Stadt keinen Einfluss darauf. Es sei der sinnvollere Weg, das Geld in Stuttgart für Menschen zu verwenden, die über die Seenotrettung zusätzlich in die Stadt kämen.

Zu einer Demokratie gehörten zum einen Mehrheiten, hält StRin von Stein (FW) fest, aber es gebe auch Minderheitsmeinungen, die respektiert werden müssten. Sie plädiert für Kompromisse, bei denen von beiderseitigen Extremen abgerückt werden müsse. Aus ihrer Sicht stellt eine Schiffspatenschaft einen Pull-Faktor dar; in der jetzigen Situation sei es falsch, weitere Anreize zu schaffen, denn es gebe bereits große Herausforderungen in der Integration von Geflüchteten. Es müssten zuerst gute Bedingungen geschaffen werden für Menschen, die sich bereits im Land befänden.

Es sei internationales Seerecht, im Wasser treibende Menschen herauszuziehen, führt StR Ebel (AfD) aus. Gerettete müssten danach allerdings dorthin zurückgebracht werden, wo sie hergekommen seien. Dies tue die internationale Seenotrettung eben nicht, worin der große Fehler liege.

Abschließend merkt EBM Dr. Mayer an, in der Diskussion müsse darauf geachtet werden, dass die Maßstäbe nicht "verrutschten". Gerade um der Demokratie Willen dürften nicht bei jedem anderslautenden Statement demokratieschädliche Umtriebe gewittert werden. Das von OB Dr. Nopper gewählte Verfahren könne er gut nachvollziehen, denn dieser habe ein eigenständiges Beratungsrecht als Vorsitzender des Gemeinderates und sei als Chef der Verwaltung für die Bindung an Recht und Gesetz zuständig. Die Selbstverwaltungsgarantie der Kommune gelte - wie in § 28 Grundgesetz explizit ausgeführt - eben nicht schrankenlos; die Finanzhoheit beschränke sich auf Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft.


EBM Dr. Mayer stellt fest:

Dem Antrag Nr. 6/2024 wird bei 12 Ja- und 8 Gegenstimmen mehrheitlich
zugestimmt.

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