Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Kultur/Bildung und Sport
Gz: KBS
GRDrs 967/2011
Stuttgart,
10/25/2011



Haushalt 2012/2013

Unterlage für die 1. Lesung des Verwaltungsausschuss zur nichtöffentlichen Behandlung am 09.11.2011



Förderung der Erforschung der NS-Zeit;
Zeitzeugenbefragung 1933 - 1945


Beantwortung / Stellungnahme


Das Interesse an der NS-Zeit ist zu Recht ungebrochen, ebenso das bürgerschaftliche Engagement. Die NS-Geschichte ist ein zentraler Referenzpunkt der Auseinandersetzung mit Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland; ein angemessener Umgang und eine öffentliche Erinnerungskultur gehören zur Staatsräson. Dabei ist es angesichts der Thematik durchaus selbstverständlich, dass zu diesem Diskurs über „Vergangenheitspolitik“ Konflikte gehören.

Die verantwortliche Beschäftigung mit der NS-Zeit bleibt unbestritten eine öffentliche Aufgabe. Die methodische Forschung gewinnt dabei noch an Bedeutung, um mit zeitlicher Entfernung und dem Erlöschen der Zeitzeugen-Generation eine Grundlage für eine angemessene Erinnerungskultur sowie für die notwendige Bildungs- und Vermittlungsarbeit zu schaffen und um Beliebigkeit sowie Instrumentalisierung zu verhindern.

Die Stadt Stuttgart hat in der Erkenntnis dieser Verantwortung die wissenschaftliche Erforschung der NS-Geschichte bereits in den 1980er Jahren unterstützt und mit dem Historischen Institut der Universität Stuttgart kooperiert. Stadt und Institut haben mehrere internationale Tagungen gemeinsam ausgerichtet; die von Prof. Jäckel betreute Dissertation von Roland Müller über „Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus“ wurde durch ein Stipendium gefördert. Mit dem viel beachteten „Projekt Zeitgeschichte“ hat die Stadt sowohl zur Erforschung wie zur Vermittlung der NS-Geschichte beigetragen. Diese Projekte haben auch die Entwicklung einer stadtgesellschaftlichen Erinnerungskultur und eines bemerkenswerten bürgerschaftlichen Engagements befördert. Stuttgart galt auch dank der Aktivitäten der Stadtverwaltung – zumal in Relation zur Quellenlage - als eine der am besten erforschten Städte zur NS-Geschichte. Die Stadt sieht darin eine Verpflichtung, nachdem in den letzten Jahren neue Quellen in die Archive gelangt bzw. zugänglich geworden sind. Sie ermöglichen die Bearbeitung von Themen, bei denen Forschungsbedarf besteht.

Anknüpfend an die frühere Zusammenarbeit und Förderung bekräftigt die Stadt Stuttgart mit der Forschungsförderung die Bedeutung des Wissenschaftsstandorts für die Stadtgesellschaft, nicht zuletzt der Geisteswissenschaften an der Universität Stuttgart. Stipendien ermöglichen unabhängige Forschung, sie sind in Relation von Aufwand und nachhaltigem Ertrag auch als kostengünstig anzusehen. Die Stadt München hat, unabhängig vom städtischen Anteil am NS-Dokumentationszentrum in der ehem. „Hauptstadt der Bewegung“, für ein Forschungsprojekt von Ludwig-Maximilians-Universität und Stadtarchiv 250.000 Euro bereitgestellt.

Die Stadtverwaltung hat wiederholt betont, dass sie die Förderung der Erforschung der NS-bezogenen Stadtgeschichte für wichtig und sinnvoll hält. Geeignetes Instrument ist die Förderung von Dissertationen, die allein den wissenschaftlichen Standards verpflichtet sind. Stipendien wurden bereits in der Beantwortung der Anfrage Nr. 312/2009 als wünschenswert bezeichnet.

Nach einem entsprechenden Auftrag hat das Stadtarchiv mit dem Historischen Institut der Universität Stuttgart, Abt. Neuere Geschichte (Prof. Pyta), eine Bestandsaufnahme sowie einen Vorschlag für weitere Forschungen erarbeitet.

Folgende Themen(-felder) kommen für eine Bearbeitung in Frage (Arbeitstitel):

- (Kriegs-)Wirtschaft und Zwangsarbeit

- „Arisierung“ und Rückerstattung

- Sicherheitsapparat und Gesellschaft

Vorgeschlagen wird die Förderung von zunächst zwei Dissertationsprojekten. Die Entscheidung über die Projekte und die BearbeiterInnen obliegt dem Historischen Institut, das jährlich über den Stand berichtet.

Die Stipendien sollen jeweils für 30 Monate gewährt und analog zur Graduiertenförderung mit einem monatlichen Betrag von 1.100 Euro dotiert werden.


Finanzierung

Unter der Voraussetzung, dass zwei Stipendien ab 1. Januar 2012 vergeben werden können, sind in den Haushaltsjahren 2012 und 2013 jeweils 26.400 Euro erforderlich, im HH 2014 weitere 13.200 Euro.

Mittel für die Stipendien stehen bisher nicht zur Verfügung und können auch nicht durch Umschichtung zur Verfügung gestellt werden. Sie müssen im Rahmen einer Forschungskooperation im Etat des Stadtarchivs zusätzlich bereitgestellt werden.

















Vorliegende Anträge/Anfragen

411/2011 Nr. III.12 Bündnis 90/DIE GRÜNEN-Gemeinderatsfraktion
538/2011 Abs. 10 SPD-Gemeinderatsfraktion





Dr. Susanne Eisenmann



Ausführlicher Bericht

1. Anmerkungen zum Stuttgarter NS-Diskurs seit den 1960er Jahren

Die deutsche Zeitgeschichte ist ebenso wie Geschichtspolitik und Erinnerungskultur unter den besonderen Bedingungen des Zivilisationsbruches der NS-Zeit zu sehen. Trotz und auch wegen der intensiven Diskussionen hat sich bei aller Kritik im Detail in der Bundesrepublik Deutschland eine international beachtete Erinnerungskultur etabliert. Zudem kann die NS-Zeit als die am besten erforschte Epoche der deutschen Geschichte gelten.

Der kommunale NS-Diskurs der letzten 50 Jahren spiegelt die allgemeine Entwicklung. Spezifisch waren die zeitweise enge Verbindung der Stadt mit der Universität Stuttgart, auch mit der Bibliothek für Zeitgeschichte, sowie einige in ihrer Zeit bemerkenswerte Projekte.

So ging das 1960/61 initiierte Projekt „Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden“ einem Projekt des Landes zur Erforschung der Schicksale der jüdischen Bürger voraus. Damals entstanden erste Erinnerungsorte (z.B. Synagoge Cannstatt 1961, Killesberg 1962 u.a.). OB Klett war die Verbindung mit Shavei Zion, gegründet von württ. Emigranten 1938, ein Anliegen, er unterstützte gegen Vorbehalte auch die Dokumentation des ehem. KPD-Stadtrats Willi Bohn über den politischen Widerstand (ersch. 1969). Maria Zelzer: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Stuttgart 1964; Willi Bohn: Stuttgart-geheim! Frankfurt 1969. Zur Beziehung mit Shavei Zion vgl. Roland Müller: „Eine Art Patenkind“ – Die Beziehungen zwischen Stuttgart und Shavei Zion. In: Ort der Zuflucht und Verheißung. Shavei Zion 1938-2008. Stuttgart 2008, S. 146-152.

Die 1970er Jahre waren vom Streit um die Chronik 1933-1945 geprägt. Der Beschluss (1973) für ein Tageskalendarium erschien zumal aufgrund der Forschungssituation bald zu Recht als defizitär. Neben der allgemeinen Forschungslandschaft (u.a. Projekt Bayern in der NS-Zeit u.a.) war regional v.a. die Monographie von Paul Sauer: Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus. Ulm 1975 bedeutsam. - Dass die von Zelzer erarbeitete Chronik der NS-Zeit damals von der Stadt nicht zum Druck freigegeben worden ist, ist nicht nachvollziehbar; die Arbeit konnte erst 1982 erscheinen: Maria Zelzer: Stuttgart unterm Hakenkreuz. Chronik aus Stuttgart 1933-1945. Stuttgart 1982 (²1984). Immerhin erwuchs aus dem Konflikt eine positive Perspektive, ein wesentliches Verdienst von OB Rommel wie des bürgerschaftlichen Engagements:

- Projekt Zeitgeschichte in zwei Teilen von 1980-1985 und 1986-1990 mit Ausstellungen, Katalogen und ergänzenden Publikationen Ausstellungen und Kataloge des Projekts „Stuttgart im Dritten Reich“ unter Leitung von Dr. Karlheinz Fuchs: Prolog. Politische Plakate der Weimarer Republik. Stuttgart 1982; Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt. Stuttgart 1983; Anpassung, Widerstand, Verfolgung. Die Jahre von 1933 bis 1939. Stuttgart 1984; Begleitprojekte: Jürgen Genuneit: Völkische Radikale in Stuttgart- Zur Vorgeschichte und Frühphase der NSDAP 1890-1925. Stuttgart 1982; Michael Kienzle und Dirk Mende: Friedrich Wolf . Die Jahre in Stuttgart 1927-1933. Ein Beispiel Stuttgart 1983; Ausstellung und Katalog des Projekts „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg“ unter Leitung von Dr. Marlene P. Hiller: Stuttgart im Zweiten Weltkrieg. Gerlingen 1989.

- Unterstützung von wiss. Tagungen zur NS-Geschichte im Rathaus

- Förderung einer Dissertation „Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus“ Roland Müller: Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988.

- Einladung für ehem. jüdische Bürger (zunächst abgelehnt), 1983-2001
- Erinnerungskultur: z.B. Gedenkveranstaltungen, 1985: Stiftung der Otto-Hirsch-Medaille durch Stadt, IRGW, GCJZ. In einer Art Wechselwirkung von städtischem und stadtgesellschaftlichem Engagement entstanden weitere Projekte, etwa die Alternativen Stadtrundfahrten des Stadtjugendrings.

Stuttgart hatte damit ein vergleichsweise bemerkenswertes Maß an eigenen bzw. geförderten Aktivitäten vorzuweisen. Sie blieben zu Recht nicht auf die NS-Geschichte beschränkt. So wurde damals u.a. die Vortragsreihe „Geschichte im Rathaus“ begründet; auch die Vergabe des Internationalen Historikerkongresses 1985 nach Stuttgart war ein Erfolg dieser Arbeit.

Die letzten Jahre waren und sind von großem bürgerschaftlichen Engagement geprägt. Pars pro toto seien die Stolperstein-Initiativen sowie das „Zeichen der Erinnerung“ als zentraler Gedenkort der Deportationen genannt, von der Stadt unterstützt. Städtischer Partner war bei bürgerschaftlichen Initiativen das Stadtarchiv, bei dem die Vermittlung von Forschungsergebnissen durch Tagungen, Publikationen, Bildungsarbeit etc. im Vordergrund stand. Eigenen Forschungen sind durch die wachsenden archivfachlichen Aufgaben enge Grenzen gesetzt; der Leiter des Archivs hat jedoch weiter zum Thema geforscht und publiziert. Zuletzt entstand beim Stadtarchiv eine Studie über Straßenbenennungen in der NS-Zeit. Peter Poguntke. Braune Feldzeichen. Die Stuttgarter Straßenbenennungen in der NS-Zeit und der Umgang nach 1945. Stuttgart 2011.

Dabei ist an die Aussage von Prof. Jäckel bei der Eröffnung der ersten Ausstellung des Projekts Zeitgeschichte zu erinnern, dass die Stadt nicht gleichsam obrigkeitlich Projekte selbst durchführen, sondern die Forschung unterstützen solle. Diese Forschungsförderung erscheint derzeit als besondere Notwendigkeit. Denn die methodische Erforschung des Themas gewinnt noch an Bedeutung, um eine Grundlage für die notwendige Bildungs- und Vermittlungsarbeit in einer pluralen Gesellschaft zu ermöglichen sowie Beliebigkeit und Instrumentalisierung zu verhindern. Gerade in dieser Phase sind die Bedingungen für Qualifikationsarbeiten im Bereich der sog. Geisteswissenschaften erheblich erschwert. Zugleich kann die Stadt Stuttgart mit der Forschungsförderung die Bedeutung des Wissenschaftsstandorts für die Stadtgesellschaft, hier der Geisteswissenschaften, an der Universität Stuttgart bekräftigen.

Stipendien wurden bereits in der Beantwortung der Anfrage Nr. 312/2009 als wünschenswert bezeichnet. Derzeit sind Mittel für Stipendien nicht etatisiert, sie stehen bei der Kulturverwaltung auch nicht zur Verfügung; sie müssen vielmehr neu bereitgestellt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Stipendien in Relation von finanziellem Aufwand und fachlichem Ertrag eine besonders kostengünstige Art einer Förderung bilden.

2. Forschungsstand und wichtige Forschungsfelder

Grundlage der Beschäftigung mit der Stuttgarter NS-Geschichte sind nach wie vor die Ergebnisse der Projekte Zeitgeschichte unter Leitung von Karlheinz Fuchs (1980-1984/85) und Marlene P. Hiller (1986-1990) sowie die von der Stadt geförderte Monographie von Roland Müller. Sie bildet für zentrale Themen der lokalen NS-Geschichte eine maßgebliche Grundlage; verschiedene Aspekte wurden vom Autor durch neue Forschungen ergänzt. Im Kontext der genannten Projekte ist auch die Dissertation Walter Nachtmanns über den über Stuttgart hinaus bedeutenden Oberbürgermeister Dr. Karl Strölin zu nennen. Walter Nachtmann: Dr. Karl Strölin. Oberbürgermeister im Dritten Reich. Stuttgart/Tübingen 1995.

Einige wichtige Fragestellungen konnten aufgrund der Quellenlage bzw. der Zugänglichkeit von Quellen nicht angemessen bearbeitet werden. Mittlerweile stehen auch personenbezogene Einzelfall-Akten für die Forschung weitgehend zur Verfügung (Wiedergutmachung, Rückerstattung, Ermittlung und Strafverfolgung etc.) Sie sind angesichts der Verluste bzw. der Zerstörung von Unterlagen der NS-Zeit von besonderer Relevanz. Zudem sind inzwischen private Archive z.B. der Wirtschaft zugänglich, die seinerzeit nicht genutzt werden konnten. Das Stadtarchiv hat die Quellenbasis durch aktive Überlieferungsbildung verbessert.
Allerdings erfordern die neu verfügbaren, häufig personenbezogenen Quellen aus der Nachkriegszeit einen vergleichsweise hohen Recherche- und Interpretationsaufwand.

Die Existenz umfassender Publikationen sowie die durch den Zugang zu personenbezogenen Archivalien begünstige Individualisierung der Geschichtsbetrachtung beförderte das bürgerschaftliche Engagement und entsprechende Beiträge. Dennoch sind – gerade weil durch die genannten Arbeiten Material für die Forschung bereit gestellt wurde – zahlreiche Studien entstanden, bei denen Stuttgart vergleichend berücksichtigt bzw. einbezogen worden ist. Als ein Beispiel sei das Deutsche Ausland-Institut genannt, für das nach der frühen Arbeit Ritters aus dem Jahr 1971 inzwischen eine weitere Dissertation aus dem Jahr 2006 vorliegt. Ernst Ritter: Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917-1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen. Wiesbaden 1976, Katja Gesche: Kultur als Instrument der Außenpolitik totalitärer Staaten. Das Deutsche Ausland-Institut 1933–1945. Köln u.a.2006.

Ergänzend soll der Forschungsstand zu einigen wichtigen Themen skizziert werden.

Jüdische Geschichte

Die Entrechtung und Verfolgung jüdischer Bürger sowie die Schoah war das erste und ist bis heute am intensivsten beforschte Thema der NS-Historiographie. In den letzten Jahren sind zu Stuttgart relevante wissenschaftliche Monographien erschienen. Susanne Ruess: Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus. Würzburg 2009; Martin Ulmer: Antisemitismus in Stuttgart 1871-1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag. Berlin 2010; zum regionalen Kontext des KZ-Systems in der Endphase vgl. auch Thomas Faltin: Im Angesicht des Todes. Das KZ-Außenlager Echterdingen 1944/45 und der Leidensweg der 600 Häftlinge. Filderstadt/Leinfelden-Echterdingen, 2008. Einzelbeiträge beschäftigen sich mit den Aspekten der Ausschaltung und der regionalen Struktur der Deportationen. Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der "Juden" aus der Oper 1933 bis 1945. Der Kampf um das Württembergische Landestheater Stuttgart Katalog zur Wanderausstellung von Hannes Heer, Jürgen Kesting und Peter Schmidt. Berlin 2008; Ingrid Bauz; Sigrid Brüggemann und Roland Maier: "Sie brauchen nicht mehr zu kommen!" Die Verdrängung der Künstlerinnen und Künstler jüdischen Glaubens und jüdischer Abstammung aus dem Stuttgarter Theater- und Musikleben durch die Nationalsozialisten. Stuttgart 2008;
Roland Müller: Judenfeindschaft und Wohnungsnot. Zur Geschichte der jüdischen Altersheime in Stuttgart. In: Der jüdische Frisör. Auf Spurensuche: Juden in Stuttgart-Ost. Tübingen/Stuttgart 1992, S. 61-80; ders.: Deportationen aus Stuttgart 1941-1945. In: Regionale Aspekte des Vernichtungsprozesses. In: Michael Kienzle (Hrsg.): Zeichen der Erinnerung. Zug nach Theresienstadt. Stuttgart-2004, S. 23-30 (3. stark veränderte Aufl. 2009), Jupp Klegraf: Der Stuttgarter "Judenladen". Dokumentation eines fast vergessenen Stücks der Stuttgarter Stadtgeschichte. Stuttgart 2007, ergänzt aus bürgerschaftlicher Perspektive die Darstellung bei Müller, Stuttgart (Anm. 8).
Unter den Zeitzeugenberichten ragen in jüngster Zeit die Erinnerungen von Hannelore Marx und Alfred Kandler heraus. Hannelore Marx: Stuttgart-Riga-New York. Mein jüdischer Lebensweg. Horb-Rexingen 2005; Alfred R. Kandler: In der Höhle des Löwen. Lebensbericht eines schwäbisch-jüdischen Textilunternehmers. Stuttgart 2010.

Zu nennen ist auch das aus dem Engagement der Stolperstein-Initiativen entstandene sog. Opferbuch. Durch die Stolpersteine wie auch die Biographien soll primär den NS-Opfern ihre personale Würde zurückgegeben und die (un)menschliche Dimension des NS-Regimes dargestellt werden. Auch können biographische Miniaturen Erhellendes zum Leben der jüdischen Gemeinschaft vor der Schoah beitragen. Spuren vergessener Nachbarn. Ein Kunstprojekt füllt Gedächtnislücken. Hrsg. Harald Stingele und Die AnStifter, Stuttgart 2006 (³2010).

Krankenmord und NS-Gesundheitspolitik

Intensiv war die Forschung zur sog. Euthanasie, begünstigt durch die Einrichtung und wissenschaftliche Betreuung der Gedenkstätte Grafeneck seit 1995. Vor allem Thomas Stöckle hat, neben der Ermittlung der Opfer für die Gedenkstätte, verschiedene Beiträge zur Struktur des regionalen Krankenmords, zum Personal von Grafeneck und zum Umgang in der Nachkriegszeit vorgelegt. Vgl. Hermann Josef Pretsch (Hrsg.): „Euthanasie“. Krankenmorde in Südwestdeutschland. Zwiefalten 1996 sowie insbesondere zahlreiche Beiträge des Wiss. Leiter des Gedenkstätte Grafeneck; genannt seien: Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland Tübingen 2002 (2. Aufl. 2005); Thomas Stöckle: Eugen Stähle und Otto Mauthe. Der Massenmord in Grafeneck und die Beamten des Innenministeriums. In: Stuttgarter NS-Täter. Hrsg. Hermann G. Abmayr. Stuttgart 2009, S. 58-67; zuletzt Thomas Stöckle: Grafeneck: der Aufbau einer Vernichtungsanstalt; Versuch einer Chronologie. In: Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Berlin, 2011, S. 100-108. Das Stadtarchiv hat in Kooperation mit der Gedenkstätte und bürgerschaftlichen Initiativen 2000 und 2009 Tagungen veranstaltet sowie 2001 einen Band publiziert. Krankenmord im Nationalsozialismus. Grafeneck und die „Euthanasie“ in Südwestdeutschland. Stuttgart 2001.

„Volksgemeinschaft“

Anstelle der Dichotomie Täter-Opfer steht die Integration großer Teile der Bevölkerung ins NS-System im Zentrum der Forschung. Die traditionelle Perspektive spiegelt sich trotz gelungener Einzelstudien im sog. Täterbuch: Hermann G. Abmayr: Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer bis zum Massenmörder. Stuttgart 2009.Dabei spielten weniger Zwang und Propaganda, sondern in Inszenierungen entworfene ‚Bilder’ und Wahrnehmungsstrukturen sowie eine gezielte, meist emotionale symbolische Politik eine wichtige Rolle. Zu diesem Forschungsfeld existiert in Niedersachsen derzeit ein Forschungskolleg "Nationalsozialistische 'Volksgemeinschaft'? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort". Um für Stuttgart und Württemberg substantielle Ergebnisse zu erzielen, wäre ebenfalls ein über ein individuelles Qualifikationsvorhaben hinausreichendes Projekt vonnöten, dessen Unterstützung dann Aufgabe der genuinen Forschungsförderung wäre. Vgl. die Anmerkungen bei Roland Müller: Stuttgart, die "Stadt der Auslandsdeutschen". Anspruch und Wirklichkeit eines "NS-Ehrentitels". In: Stadt und Nationalsozialismus. Linz 2008, S. 289-309.
Für die regionale Gesellschaftsgeschichte siehe jetzt v.a. Jill Stephenson: Hitler’s home front. Württemberg under the Nazis. London u.a. 2006.

Wurde die Rolle der Gestapo eher überschätzt, so wurde die alltägliche Macht der unteren Funktionsträger (Block- und Zellenleiter) im System eher unterschätzt. Stuttgart bildete bei einem vergleichend angelegten Forschungsprojekt über „Funktionsweise, soziale Basis und Rezeption diktatorischer Herrschaft auf lokaler Ebene“ an der FU Berlin und der Univ. Leipzig ein zentrales Untersuchungsfeld. Vgl. Christine Müller-Botsch: „Den richtigen Mann an die richtige Stelle": Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP-Funktionären. Frankfurt am Main [u.a.] 2009; Detlef Schmiechen-Ackermann: Der „Blockwart“. Zur Bedeutung der unteren Parteifunktionäre als konstitutives Element des nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparates. In: VfZG 46 (2000) S. 575-602.
Als Gastbeitrag entstand eine (unveröffentlichte) Studie zu den Stuttgarter NSDAP-Ortsgruppenleitern von Roland Müller.

Kultur- und Gesellschaftsgeschichte

Eine monographische Kultur- und Gesellschaftsgeschichte Stuttgarts von 1920 bis 1950 erscheint aufgrund der Quellensituation derzeit kaum machbar. Voraussetzung wäre eine genügend große Zahl sog. Ego-Dokumente, Nachlässe etc. Bisher ist ansatzweise die Geschichte von Kulturinstitutionen untersucht worden; naturgemäß stehen aufgrund der Überlieferungslage öffentliche Einrichtungen im Zentrum. Zu den Staatstheatern v.a. Petra Völzing: Die Württembergischen Staatstheater Stuttgart im Dritten Reich. In: ZWLG 56 (1997) S. 320-356; vgl. auch Anm. 9. Außerdem: NS-Musikpolitik in Stuttgart 1933-1945; "arisch geartet". Regionalbeitrag zur Ausstellung "Entartete Musik" vom 13.11.-15.12.1991 in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Stuttgart 1991; Hagen Schulze: Gleichschaltung des Philharmonischen Orchesters Stuttgart 1933. In: Musik in Baden-Württemberg. 8 (2001) S. 193-220; Roland Müller: Vom privaten Landesausschuss zur Staatlichen Volksbüchereistelle. Zur Organisation des Öffentlichen Büchereiwesens in Württemberg zwischen den Weltkriegen. In: Württembergisch-Franken 86 (2002) S. 609-631; Roland Müller: Wirtschaftsoase" und "Stadt der Auslandsdeutschen". Stuttgart und das Stadtarchiv zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. Essen, 2007. S. 407– 24. Insgesamt erscheint die derzeitige Vergabe einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit in diesem Themenbereich nicht sinnvoll.

3. Forschungsvorhaben

Aus dieser Bestandsaufnahme zum Quellen- und Forschungsstand ergeben sich folgende drei Themenfelder, die im Forschungsvergleich Desiderate darstellen:

o (Kriegs-)Wirtschaft und Zwangsarbeit
Zwar liegen Monographien über die großen Unternehmen Daimler-Benz und Bosch vor, teils von den Unternehmen angeregt und gefördert. Darin wird auch das Thema Zwangsarbeit in unterschiedlicher Weise thematisiert. An Monographien zu nennen sind: Joachim Scholtyseck: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933 bis 1945. München 1999; Bernard P. Bellon: Mercedes in Peace and War. German Automobile Workers, 1903-1945. New York/Oxford 1990; Barbara Hopmann u.a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz. Stuttgart 1994; Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich. Berlin 1997. - Dazu Aufsätze sowie Einzelstudien zu Werken außerhalb Stuttgarts bzw. zum Einsatz von „Sklavenarbeitern“: z.B. Helmuth Bauer: Innere Bilder wird man nicht los. Die Frauen im KZ-Außenlager Daimler-Benz Genshagen. Berlin 2011. Für die Stuttgarter Wirtschaft sind jedoch klein- und mittelständische Strukturen prägend, die durch diese Studien nicht erfasst werden. Dabei sind (Kriegs-)Wirtschaft und Zwangsarbeit analytisch zu verknüpfen, wie dies Elisabeth Timm in ihrer ausgezeichneten Studie über Esslingen geleistet hat. Elisabeth Timm: Zwangsarbeit in Esslingen 1939 – 1945. Kommune, Unternehmen und Belegschaften in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Ostfildern 2008.

o „Arisierung“ und Rückerstattung
Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bürger standen auch in Stuttgart am Beginn der Erforschung der NS-Zeit. Inzwischen liegen zahlreiche Studien sowie Beiträge zur Erinnerungskultur vor. Ein Desiderat bildet die Untersuchung der sog. Arisierung; zahlreiche Studien zu anderen Städten ermöglichen eine vergleichende Perspektive. Zwar fehlt fast vollständig die Überlieferung der Finanzbehörden. Allerdings bilden die Unterlagen zu Rückerstattung und Wiedergutmachung eine Ersatzüberlieferung; deshalb kann und soll der Nachkriegsdiskurs einbezogen werden.

o Sicherheitsapparat und Gesellschaft
Die Forschungen zur Gestapo von Gellately, Mallmann/Paul u.a. haben seit Anfang der 1990er Jahre zu einer Neubewertung des angeblich monolithischen Sicherheits- und Terrorapparats geführt. Der „Gestapo-Mythos“ - von der Gestapo selbst sowie exkulpatorisch in der Nachkriegsgesellschaft gepflegt – ist, wie aktuelle Debatten zeigen, noch wirkmächtig. Eine Untersuchung des Sicherheitsapparats muss entsprechend umfassend angelegt sein und integrierende sowie mobilisierende Aspekte berücksichtigen; eine Reduktion auf die Dichotomie Täter – Opfer wird der Realität der NS-Gesellschaft nicht gerecht. Zu diesem Themenbereich wird derzeit in größeren Projektzusammenhang geforscht. Trotz schwieriger Quellenlage wäre eine regionalgeschichtliche Studie wünschenswert.