Protokoll:
Gemeinderat
der Landeshauptstadt Stuttgart
Niederschrift Nr.
TOP:
106
1
Verhandlung
Drucksache:
527/2002
GZ:
F
Sitzungstermin:
06/20/2002
Sitzungsart:
öffentlich
Vorsitz:
OB Dr. Schuster
Berichterstattung:
der Vorsitzende
Protokollführung:
Frau Haasis
sp
Betreff:
Restrukturierung der Stuttgarter
Straßenbahnen AG (SSB)
Vorgang: Verwaltungsausschuss vom 19.06.2002,
nichtöffentlich, Nr. 277
Ergebnis: Vorberatung
Beratungsunterlage ist die Vorlage des Finanz- und Beteiligungsreferats vom 07.06.2002, GRDrs 527/2002, mit folgendem
Beschlussantrag:
1. Vom Bericht des SSB-Vorstands (Anlage 1) bezüglich der geplanten Restrukturierungsmaßnahmen und des Spartentarifvertrags wird Kenntnis genommen.
2. Der Gemeinderat geht davon aus, dass die vorgesehenen und noch festzulegenden Restrukturierungsmaßnahmen zügig und zeitnah umgesetzt werden.
3. Der Gemeinderat stimmt der beigefügten Erklärung der Landeshauptstadt Stuttgart (LHS) zur Einführung des neuen Tarifvertrages für kommunale Nahverkehrsbetriebe in Baden-Württemberg bei der SSB (Anlage 2) zu.
OB
Dr. Schuster
begrüßt Herrn Bauer, Vorstand der Stuttgarter Straßenbahnen AG.
Die weiteren Ausführungen von OB Dr. Schuster werden im gekürzten Wortlaut wiedergegeben:
"Wir haben bekanntlich vor rund drei Jahren begonnen, einen Restrukturierungsplan für die SSB zu entwickeln, weil wir davon ausgehen mussten, dass die Leistungen des öffentlichen Nahverkehrs nach und nach in den Wettbewerb gestellt werden. Wir als Stadt und als Unternehmen SSB müssen ein Interesse daran haben, dass die SSB wettbewerbsfähig wird. Wir haben im Energiesektor erlebt, was es bedeutet, wenn ein Bereich sich nicht ausreichend auf die Liberalisierung und den Wettbewerb im europäischen Markt vorbereitet.
Deshalb ist es mir persönlich ein Anliegen, dass wir auf zwei Ebenen diese Liberalisierung vorbereiten:
- Politisch geht es darum, Einfluss zu nehmen auf der europäischen Ebene. Das geschieht über Verbände und über den Städtetag, das geschieht aber auch über die, die im öffentlichen Nahverkehrsverband aktiv sind, um für die kommunal gehaltenen öffentlichen Nahverkehrsunternehmen verträgliche Rahmenbedingungen zu erreichen.
- Wir haben zum Zweiten auf der Unternehmensebene begonnen, mittels einer Unternehmensberatung den Prozess der Restrukturierung und damit auch der Rationalisierung einzuleiten. Das setzt einen Lernprozess von oben nach unten und von unten nach oben im Unternehmen voraus, das setzt aber auch voraus - und das muss man ganz offen ansprechen, da wir betriebsbedingte Kündigungen ausschließen -, dass die Beschäftigten materielle Einbußen in Kauf nehmen und Opfer bringen. Wir haben, um diesen Prozess zu steuern, einen entsprechenden Ausschuss als Arbeitskreis des Aufsichtsrats gebildet. Die Stadt ist in mehrfacher Hinsicht angesprochen bei diesem Prozess.
Für mich ist der öffentliche Nahverkehr ein ganz zentraler Teil unseres verkehrliches Angebotes; wir müssen den ÖPNV weiterentwickeln und weiter verbessern, um angesichts der wachsenden Mobilität Antworten geben zu können, verbessern im Sinne von Qualität, Quantität und Attraktivität. Wir können heute feststellen, dass SSB und VVS im bundesweiten Vergleich sehr gut dastehen. Die SSB hat sich leistungsfähig weiterentwickelt. Sie ist eines der führenden ÖPNV-Unternehmen in Europa. Insoweit sind wir auf wirklich gutem Wege. Aber die SSB als 100-prozentige Tochter der Stadt muss natürlich so wirtschaftlich arbeiten, dass sie einerseits im Wettbewerb bestehen kann und damit nicht von Dritten aus dem hiesigen Bereich verdrängt wird, sie muss aber auch so arbeiten, dass die Stadt finanziell in der Lage bleibt, das notwendige Defizit auszugleichen.
Eine weitere Voraussetzung ist, dass die Stadt Stuttgart zuständig bleibt für den öffentlichen Nahverkehr. Es gibt Bestrebungen des Verbandes Region Stuttgart, diese klassische kommunale Aufgabe der Stadt zu entziehen und durch Landesgesetz dem Verband Region Stuttgart zu übertragen. Die Frage, wo welche Buslinie verläuft und wo eine Haltestelle einzurichten ist, ist eine Sache, die nicht dadurch besser wird, dass ein großer Planungsverband darüber entscheidet. Ich glaube im Übrigen auch, dass das ein klarer Eingriff in die Grundsätze der kommunalen Selbstverwaltung wäre.
Insgesamt glaube ich, ist das Anliegen der SSB berechtigt, klare Zukunftsperspektiven zu bekommen und eine gemeinsame Zukunft zusammen mit der Stadt anzusteuern. Das muss auch unser Interesse sein, weshalb Sie der Vorlage ein sogenanntes Bekenntnis zur SSB, ein Eigentümerbekenntnis, entnehmen - natürlich mit einer Reihe von Prämissen und Voraussetzungen. Ich verstehe dieses Bekenntnis nicht nur als 'Lippenbekenntnis', sondern als verbindliche Zusage im Sinne einer Selbstbindung des Gemeinderats. Auch das ist mir wichtig, denn umgekehrt erwarten wir von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der SSB, dass sie sich auf das neue Tarifrecht einstellen, was im Klartext heißt, materielle Verluste in zum Teil beachtlicher Höhe hinzunehmen."
Dem Dank von OB Dr. Schuster an den Vorstand, den Betriebsrat und die Beschäftigten der SSB schließen sich StR
Föll
(CDU), StR
Kanzleiter
(SPD), StR
Dr. Kienzle
(90/GRÜNE), StR
Fahrion
(FW) und StRin
Werwigk-Hertneck
(FDP/DVP) an. EBM
Dr. Lang
anerkennt ebenfalls ausdrücklich das im Zusammenwirken aller Beteiligten Geleistete.
StR
Föll
, StR
Kanzleiter
, StR
Dr. Kienzle
, StR
Fahrion
und StRin
Werwigk-Hertneck
teilen ihre Zustimmung zum Beschlussantrag mit. Von StR
Lieberwirth
(REP) und StR
Deuschle
(PDS) werden die Nachteile für die Beschäftigten hervorgehoben. Die Gruppe DIE REPUBLIKANER lehnt - so StR
Lieberwirth
- den Beschlussantrag ab.
StR
Föll
betont, es werde ein entscheidender Schritt unternommen, um die SSB zukunftsfähig zu machen. Anerkennung für das vorgelegte Paket wolle er auch dem Finanz- und Beteiligungsreferat aussprechen. Einverstanden sei die CDU-Gemeinderatsfraktion damit, das Eigentümerbekenntnis in eine verbindliche Zusage umzuwandeln. Wie in der Vorberatung angedeutet, wünsche er jedoch im Gegenzug, dass die Einsparpotenziale im Beschlussantrag festgeschrieben würden. Er beantrage deshalb, die Ziff. 2 des Beschlussantrags wie folgt zu ergänzen:
"Die Umsetzung der Einsparpotenziale gemäß Anlage 1a des Berichts des SSB-Vorstandes ist dabei als Minimalziel der zukünftigen Finanzplanung zugrunde zu legen."
Im Herbst werde man sich über die weitere strategische Ausrichtung und Positionierung unterhalten müssen. Er gehe jedoch von Ergebnissen aus, die der SSB eine gute Zukunft verhießen. Abschließend merkt StR Föll an, strittig sei nicht die Tariftreuevereinbarung für die Kommunalunternehmen bzw. für den ÖPNV, strittig sei vielmehr die in diesem Gesetz zu regelnde Vergabe öffentlicher Aufträge im Bauwesen. Selbst wenn das Tariftreuegesetz nicht zustande komme, mache der Spartentarifvertrag Sinn, weil die von ver.di vorgenommene Verknüpfung, dass während der Laufzeit des Spartentarifvertrags Ausschreibungen von ÖPNV-Leistungen vorzunehmen seien aufgrund der Vorgaben der EU, zwischenzeitlich nicht mehr zutreffe. Im Interesse der betroffenen Mitarbeiter/-innen der SSB hoffe er, dass der Spartentarifvertrag zukünftig Anwendung finde.
StR
Kanzleiter
bezeichnet die Vorlage als wichtige Grundlage für eine Weiterentwicklung des Nahverkehrs in Stuttgart. Für die SPD-Gemeinderatsfraktion sei der ÖPNV eine Kernaufgabe der Kommune und ein Element der Daseinsvorsorge; er lasse sich nur eingeschränkt dem Markt übereignen. Vor dem Hintergrund, dass es die Tradition der kommunalen Selbstverwaltung in anderen Staaten der EU nicht gebe, sehe er die Gefahr der Anpassung. Diesbezügliche Aktivitäten seien mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen. Bisher gebe es keine gesetzliche Veränderung gegenüber dem, was früher gegolten habe. Allein die Tatsache, dass sich die EU anschicke, grundlegende Weiterentwicklungen voranzutreiben, führe zu Veränderungen in der Verhaltensweise der öffentlichen Personennahverkehrsunternehmen.
Festzuhalten sei, dass die SSB seit 1992 540 Mitarbeiter/-innen weniger beschäftige bei einem wesentlich gesteigerten Potenzial an Aufgaben. Als Gegenleistung für Einkommensverzicht und Personalabbau habe man die Linienvergabe an Private begrenzt. Seit 1999 befinde sich die SSB in einem klaren Restrukturierungsprozess. Das angestrebte Ergebnis könne nur erzielt werden, wenn alle Beteiligten dahinter stünden und niemand überfordert werde. Nicht hoch genug gewürdigt werden kann nach Ansicht von StR Kanzleiter, dass es sich bei diesem Projekt um das Bündnis eines ÖPNV in kommunaler Hand und den Beschäftigten in diesem Unternehmen handelt. Allen Verantwortlichen in der Stadtverwaltung sollte dieser Prozess als Vorbild dienen für eigenes Handeln. Damit die jetzt vereinbarten Tarifverträge künftig Grundlage seien und nicht "Dumpingtarifverträge", sei der Abschluss des Tariftreuegesetzes wichtig. Er bitte die Kolleginnen und Kollegen von der CDU-Gemeinderatsfraktion, sich bei der Landesregierung dafür einzusetzen. EBM
Dr. Lang
merkt an, es sei zweifelsfrei richtig, dass der Spartentarifvertrag eine Absenkung der Tariflöhne beinhalte und darüber hinaus die Produktivität durch den Wegfall freier Tage erhöht werden solle; zu bedenken gebe er jedoch, dass der Grund hierfür bei den von der Gewerkschaft in der Vergangenheit unterschiedlich abgesprochenen Tarifverträgen liege.
Die Treueerklärung der Stadt werde von seiner Fraktion - so StR
Kanzleiter
- gerne abgegeben. Sie sehe deren Bedeutung sowohl für den ÖPNV in Stuttgart als auch für die Beschäftigten und ihre Familien.
StR
Dr. Kienzle
unterstreicht ebenfalls die von der SSB mit dem von ihr eingeleiteten Prozess der Restrukturierung erbrachte Leistung. Trotz Reduzierung des Personalbestandes und geringeren Leistungen habe sie auf mehr Fahrkilometern mehr Fahrgäste transportiert und ihren Standard insgesamt gehoben unter Randbedingungen, die - sowohl hinsichtlich des Arbeitsmarktes als auch der Verkehrspolitik der Stadt Stuttgart - nicht günstig gewesen seien. StR Dr. Kienzle spricht die Hoffnung aus, dass der sogenannte Spartentarifvertrag in Kraft tritt.
Er gehe davon aus, dass das bislang in der Systematik und auch in der Partizipation vorbildlich entwickelte Modell des Restrukturierungsprozesses fortgesetzt und der Ausgleichsbetrag der Eigentümerin Stadt bis 2006 wie vorgesehen abgesenkt wird. Weiter gehe er davon aus, dass sich die Stadt verbindlich zum Nahverkehr bekenne. Die Gemeinderatsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN traue der SSB zu, dass sie, wie es im Vertragsentwurfs heiße, "die sich bietenden Marktchancen wahrnehme". Eingehend auf die von StR Dr. Kienzle gemachte Aussage über die seiner Ansicht nach eher kritische Begleitung des Restrukturierungsprozesses durch EBM
Dr. Lang
verweist dieser auf den Beitrag der Finanzverwaltung an den in den vergangenen zwei Jahren mit der SSB geführten Gesprächen, der sicher mitgeholfen habe, dass man sich mit dem Ausgleichsanspruch in die sich jetzt abzeichnende Richtung bewege.
StR
Fahrion
wünscht Herrn Bauer und seinen Kolleginnen und Kollegen viel Kraft für die Umsetzung der in der Vorlage beschriebenen Einzelmaßnahmen.
StRin
Werwigk-Hertneck
stellt heraus, die SSB sei ein Vorbild dafür, dass das Sichauseinandersetzen mit dem Wettbewerb nicht nur Angst mache, sondern zu Anstrengungen und zu einer positiven Entwicklung führe. Die FDP/DVP-Gemeinderatsfraktion unterstütze den Spartentarifvertrag. Dem Zusatzantrag der CDU-Gemeinderatsfraktion stimme sie ebenfalls zu.
StR
Lieberwirth
befürchtet "einen Kahlschlag und eine Leistungseinschränkung in riesigem Umfang". Trotz aller gegenteiliger Versprechen werde gedroht, den ÖPNV "abzuwürgen" und vor allem auch personell zu schwächen. Unabhängig von den EU-Richtlinien werde deutlich, dass dies eine Folge der Beteiligungsverkäufe sei, die zu Sparmaßnahmen und zwangsläufig zu Fahrpreiserhöhungen führten. Einkommensminderungen kämen auf die Beschäftigten zu und Mehrleistungen würden gefordert. Dies werde insgesamt zu einer Qualitätsminderung beim ÖPNV führen.
Nach Ansicht von StR
Deuschle
wird, obwohl nicht klar ist, wie die neue EU-Verordnung in Bezug auf den ÖPNV aussieht, schon jetzt versucht, "die Dinge knallhart auf dem Rücken der Beschäftigten festzuziehen". Die Erfahrungen mit dem Einstiegstarifvertrag sollten zunächst einmal ausgewertet werden. Er führt weiter aus, die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg setzten in der Frage der Wettbewerbsfähigkeit ungleiche Maßstäbe. Der Individualverkehr, d. h. der Autoverkehr, werde begünstigt, und selbst Nichtautofahrer müssten den Individualverkehr mit 2.700 DM jährlich subventionieren.
StR Deuschle beantragt, im Bekenntnis des Eigentümers (Anlage 2 zur GRDrs 527/2002, 3. Abs.) folgenden Satz zu streichen: "Hinzu kommt, dass die Landeshauptstadt mittelfristig nicht bereit ist, für den Nahverkehr der SSB mehr Mittel bereitzustellen, als dies unter gleichen Bedingungen bei einer Vergabe im Wettbewerb erforderlich wäre."
OB
Dr. Schuster
stellt abschließend fest:
Der Gemeinderat
lehnt
den o. g. Antrag von StR Deuschle (PDS) bei 1 Ja-Stimme mehrheitlich
ab
.
Der Gemeinderat
stimmt
dem Ergänzungsantrag von StR Föll (CDU) bei 4 Gegenstimmen mehrheitlich
zu
. Die Ziff. 2 des Beschlussantrags der GRDrs 527/2002 lautet damit wie folgt:
"Der Gemeinderat geht davon aus, dass die vorgesehenen und noch festzulegenden Restrukturierungsmaßnahmen zügig und zeitnah umgesetzt werden. Die Umsetzung der Einsparpotentiale gem. Anlage 1a des Berichts des SSB-Vorstandes ist dabei als Minimalziel der zukünftigen Finanzplanung zugrunde zu legen."
Der Gemeinderat
beschließt
einschließlich der Ergänzung in Ziff. 2 bei 3 Gegenstimmen mehrheitlich
wie
in der GRDrs 527/2002
beantragt
.