Protokoll: Gemeinderat der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
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VerhandlungDrucksache:
27/2006
GZ:
USO 7703-00
Sitzungstermin: 16.03.2006
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: OB Dr. Schuster
Berichterstattung:BM Hahn
Protokollführung: Frau Huber-Erdtmann
Betreff: Forschungs- und Entwicklungsvorhaben "Bodenschutzkonzept Stuttgart" (BOKS) - Teil II -
haushälterischer Umgang mit Boden, Bewirtschaftung des "Bodenkontingents"

Vorgang: Ausschuss für Umwelt und Technik vom 07.02.2006, nichtöffentlich, Nr. 43

Ergebnis: Einbringung

Ausschuss für Umwelt und Technik vom 14.02.2006, öffentlich, Nr. 58

Ergebnis: ohne Votum in den Gemeinderat verwiesen

Gemeinderat vom 23.02.2006, öffentlich, Nr. 27

Ergebnis: Vertagung


Beratungsunterlage ist die Vorlage des Referats Umwelt, Sicherheit und Ordnung vom 25.01.2006, GRDrs 27/2006, mit folgendem

Beschlussantrag:

1. Es wird zur Kenntnis genommen, dass nachhaltige Stadtentwicklung nur dann erreicht werden kann, wenn der Neuverbrauch von Böden zurückgefahren und mittelfristig eingefroren wird.

2. Aus diesem Grund soll im Zuge der Bauleitplanung

2.1 das Funktionspotenzial der hoch- und sehr hochwertigen Böden dauerhaft gesichert werden, indem der haushälterische Umgang mit Boden über die gezielte Bewirtschaftung eines "Bodenkontingents" von 1.000 Bodenindex-Punkten gesteuert wird,

2.2 die Rate der Neuinanspruchnahme schrittweise so reduziert werden, dass spätestens ab 2060 kein Neuverbrauch mehr stattfindet. Gleichzeitig soll der Bedarf an Boden schon heute vorrangig und nach Aufzehrung des "Bodenkontingents" grundsätzlich im heutigen Innenbereich gedeckt werden.

3. Die Verwaltung wird mit der Umsetzung o. g. Ziele beauftragt, wobei

3.1 in den Erläuterungen zur jeweiligen Bauleitplanung der Punktestand des "Bodenkontingents" fortlaufend zu aktualisieren und darzustellen ist und

3.2 alle 2 Jahre, spätestens aber bei jeder Fortschreibung des FNP, eine Bilanz zum Bodenverbrauch vorzulegen ist und bei Überbewirtschaftungen Vorschläge für Kurskorrekturen zu unterbreiten sind.


Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt der gemeinsame Änderungsantrag Nr. 59/2006 der Gemeinderatsfraktionen von CDU, Freien Wählern und FDP vom 23.02.2006 vor. Er ist der Niederschrift angeheftet.


Einleitend trägt BM Hahn vor (Wortlaut):

"Der Bodenschutz ist im Vergleich mit den Bereichen 'Wasser' und 'Luft' eine relativ junge Disziplin. Erst 1999 hat ihn das Bundes-Bodenschutzgesetz auf Bundesebene ins rechte Bewusstsein gerückt. Mit dem FNP 1990 und verstärkt mit dem FNP 2010 hat die Stadtplanung den Bodenschutz aber auch schon vor 1999 in der Planung berücksichtigt und gewichtet; das Flächenrecycling ist seit Jahren ein Schwerpunkt der Stadtentwicklung in Stuttgart.

BM Beck hat in der UTA-Sitzung am 14.02.2006 einige Zahlen genannt, die zum Nachdenken anregen: Jährlich fällt auf Stuttgarter Gemarkung eine Niederschlagsmenge von ca. 145 Millionen m3. Etwa die Hälfte davon gelangt auf naturnahe Böden und kann dort aufgenommen und unserem Grundwasser zugeführt werden. In den Bereichen, in denen die Böden versiegelt sind, funktioniert dieser Kreislauf nicht mehr. Allein im Jahr 2005 kamen im Hauptklärwerk Mühlhausen ca. 24 Millionen m3 Regenwasser an, das dort behandelt werden musste; knapp 50 Mio. m³ Regenwasser gelangten über Regenüberlaufbecken in Vorfluter. Von versiegelten Flächen fließt bis zu 90 % Wasser ab.

Etwa 5.400 Tonnen Staub rieseln jährlich aus der Luft auf unsere Gemarkung nieder und werden - soweit vorhanden - von naturnahen Böden aufgenommen und dauerhaft absorbiert. Der Rest - speziell bei Trockenwetterlagen - begegnet uns auch als Fein-staub erneut. Unsere Waldböden, die wir auf immerhin auf 24 % unserer Gemarkung finden, 'recyclen' jährlich über 99.000 Tonnen Laub.

Das zeigt uns, dass ein Verlust an Boden weit mehr bedeutet als einen Verlust landwirtschaftlicher Produktionsflächen. Es handelt sich um den Schwund einer wichtigen Ressource, der zahlreiche negative Folgeerscheinungen in den Naturkreisläufen auslöst, die ihrerseits technisch bekämpft oder ausgeglichen werden müssen; ich nenne nur die Regenwasserableitung und den Hochwasserschutz. Besonders spürbar ist dies dort, wo bereits ein hoher Anteil naturnaher Böden einer Nutzung für Siedlung und Verkehr zum Opfer gefallen ist. Bei uns ist das immerhin schon auf knapp über 50 % der Gemarkungsfläche der Fall, und es gibt Prognosen, dass - wenn der bisherige Trend so weitergeht - im Jahr 2080 alle funktionstauglichen Böden verschwunden sind.

Wir wollen in Stuttgart eine nachhaltige und damit zukunftsfähige Stadtentwicklung verfolgen, für die der verantwortungsbewusste Umgang mit den knappen Bodenressourcen von zentraler Bedeutung und damit selbstverständlich ist. Das bedeutet - und daran zweifelt mittlerweile wohl niemand mehr -, dass die Stadt mit den noch vorhandenen Böden haushälterisch wirtschaften muss.

Ich darf an die Karte zur 'Bodenqualität' und an den 'Bodenindex' erinnern. Damit wurden schon wichtige Entscheidungsgrundlagen und Arbeitsmethoden eingeführt, mit denen wir seither den Bodenverbrauch in der Bauleitplanung messen und analysieren. Aus dem Bodenschutzkonzept Teil I resultieren Ihre weiterführenden Aufträge zu eher strategischen Zielen, welche die Verwaltung mit BOKS Teil II erledigt hat, indem sie aufzeigt, wie das Leitbild einer nachhaltigen Bodenbewirtschaftung aussieht, wie groß der verfügbare Bodenvorrat ist, wie groß mögliche Spielräume sind und wie und unter welchen Voraussetzungen haushälterischer Umgang mit Boden funktioniert und wie die Bauleitplanung in diese Richtung gesteuert werden kann.

Meine Damen und Herren, ich lege großen Wert auf die Feststellung, dass BOKS Teil II mit seinen Bodenindex-Punkten Ihre Planungshoheit wirklich nicht in Frage stellt; sie bleibt unangetastet. Aber Sie erhalten ein qualitatives Instrument, welches Sie in die Lage versetzt, dass Sie die Qualität des Bodenverbrauchs so abwägen können, dass Sie damit auch dem Auftrag des Bundes-Bodenschutzgesetzes gerecht werden. Dieser lautet: sparsamer, haushälterischer Bodenverbrauch und Erhaltung oder Wiederherstellung der Bodenfunktionen. Wirklich neu ist, dass die Qualität der anvisierten Böden künftig mit im Vordergrund steht. Und es ist eine Binsenweisheit: Je weniger qualitativ anspruchsvolle Böden wir künftig jährlich 'verbrauchen', umso länger praktizieren wir einen nachhaltigen Umgang mit unserem noch verfügbaren Bodenvorrat.

Die Verwaltung schlägt heute nochmals vor, den Änderungsantrag Nr. 59/2006 zur Grundlage der Abstimmung zu machen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung."

Seine Fraktion, so StR Schmid (CDU), gehe davon aus, dass mit BOKS II eine neue Qualität im Umgang mit Boden erreicht wird und das Konzept als ständige Mahnung wirkt, dass der Boden eine endliche Ressource ist. Man wolle aber keine Automatik, sondern auf der Grundlage des Bundes-Bodenschutzgesetzes handeln. Es sei notwendig, beim FNP die Planungshoheit auszuüben. Qualität habe damit zu tun, was im Boden ist, und nicht, was darauf wächst.

Gemeinsam mit den Fraktionen von Freien Wählern und FDP habe seine Fraktion einen Antrag (Nr. 59/2006) vorgelegt, der aber lediglich Kleinigkeiten im Beschlussantrag zur Änderung vorschlage. Er bitte, über diesen Antrag abzustimmen. StR Thurner (SPD) dankt BM Hahn für seine Erläuterungen. Mit BOKS II würden die Forderungen der EU erfüllt, mit dem Boden sparsam umzugehen. Das Bodenschutzkonzept richte sich an diejenigen Politiker, die Grundstücke leichtfertig überbauen wollen. In ihrer Sondersitzung zum Thema Wohnbebauung in Stuttgart hätten die Gemeinderäte aus der von EBM Föll vorgelegten Liste möglicher Standorte nur wenige befürwortet. Den Wert dieser Absichtserklärungen werde man aber erst dann erkennen, wenn es an die Einzelheiten geht. Seine Fraktion stimmen der Vorlage ohne Vorbehalte zu.

Bodenschutz sei von eminenter Bedeutung für die Stadt, betont StR Dr. Kienzle (90/GRÜNE), und seine Auswirkungen würden weit über die Mandatszeit des gegenwärtigen Gemeinderats hinausreichen. In der jüngsten Vergangenheit sei der Boden in kürzerer Zeit verbraucht worden als in den Jahrhunderten zuvor. Nach dem Kriege sei zuviel Boden für Straßen verwendet worden. Das Bodenkontingent dürfe nicht weiter wie bisher versiegelt werden.

Seine Fraktion verfolge die gegenwärtige Wertediskussion in der CDU und hoffe, dass die Ressource Boden die angemessene Wertschätzung erfährt. Die Grünen seien mit OB Dr. Schuster darin einig, dass die Außenflächen geschont werden müssen. Die Zielvorgaben von Referat WFB zur Wohnbebauung würden jedoch BOKS II widersprechen. Erforderlich sei eine eindeutige und verbindliche Haltung von OB Dr. Schuster und Gemeinderat zum Bodenschutz. Wenn es nicht gelinge, festzuschreiben, dass ab 2060 kein Bodenverbrauch mehr stattfindet, sollte man sich aus der Diskussion verabschieden. Die Forderung im Antrag Nr. 59/2006, diese Jahreszahl aus dem Beschlussantrag zu streichen, werde von seiner Fraktion nicht unterstützt. Die jetzige Generation könne nicht den Boden für sich verbrauchen. Gefragt seien ein städtischer Gemeinsinn und ein Gemeinderat, der keine Ausnahmen erlaubt.

Auch seine Fraktion wolle, dass Stuttgart mit anderen Kommunen konkurrieren kann, aber nicht mit Hilfe von Beton. Der Traum vom "Haus im Grünen" sei ausgeträumt. Stattdessen würden neue urbane Wohngebiete benötigt.

Er danke den Fachleuten des Amts für Umweltschutz für ihre langjährige Arbeit. Dem künftigen Umweltbürgermeister müsse man zurufen: "Werde hart!". Dem Baubürgermeister rate seine Fraktion zu intelligenten Architekten, die die Umwelt schützen.

Bereits bei den Vorberatungen hätten die Freien Wähler klar gemacht, dass sie BOKS II für wichtig halten, unterstreicht StR J. Zeeb (FW). Jedoch wolle man kein Parallelverfahren zu den Bauleitplänen, sondern BOKS II müsse mit den bestehenden Verfahren der Bauleitplanung verbunden werden. Seine Fraktion habe sich daher an dem gemeinsamen Änderungsantrag beteiligt.

StR Dr. Werwigk (FDP) berichtet, dass in Deutschland an einigen Orten die Natur durchaus wieder auf dem Vormarsch ist, die Entwicklung also in unterschiedliche Richtung gehe. Um Stuttgart herum werde viel gebaut und das Problem dadurch aus Stuttgart herausverlagert; man stehe somit vor einem Zielkonflikt. In den letzten Jahren habe der Bodenverbrauch in Stuttgart kontinuierlich abgenommen, sodass der Trend bereits in die gewünschte Richtung gehe. Das Jahr 2060 spiele keine so große Rolle. Entscheidend sei die Sensibilität im Umgang mit dem Boden. Seine Fraktion unterstütze den Änderungsantrag.

StR Lieberwirth (REP) konstatiert, dass der Verbrauch von Boden in den Städten auch von der demografischen Entwicklung - besonders bei der deutschen Bevölkerung - abhänge. Die Planungen müssten daher ein Schrumpfen der Bevölkerung mit bedenken. Es werde künftig Regionen geben, die noch wachsen, während andere stagnieren. Stuttgart werde voraussichtlich seine Bevölkerungszahl halten können; entscheidend sei aber, dass die Stadt attraktiv bleibt. Die Stadt müsse ihre Qualitäten erkennen und darauf achten, dass die Freiflächen zwischen den Stadtteilen bestehen bleiben. Notwendig sei der Schutz von Grünflächen und von Streuobstwiesen. Stattdessen müssten brachliegende Flächen bebaut werden. Da bereits viele Büros leer stünden, sollte ihre Umwandlung in Wohnraum gefördert werden.

Die Abwanderung in das Umland habe auch die gute Seite, dass in Stuttgart weniger Fläche versiegelt werden musste. Sinnvoll wäre es, wenn sich die Stadt mit den umliegenden Gemeinden abspräche und man sich ein besseres Bodenmanagement zulegen würde. Auch Rückbauten sollten denkbar sein.

Seine Gruppe werde der Vorlage zustimmen; sie lehne jedoch den Änderungsantrag ab.

StRin Küstler (DIE LINKE.PDS) ist enttäuscht, dass die Verwaltung den Änderungsantrag übernommen hat, denn dadurch werde der gute Ansatz abgeschwächt und ein Ende des Bodenverbrauchs in sehr weite Ferne gerückt. Wichtig wäre ein Konzept, das eine gewisse Verpflichtung zur Umsetzung enthält. Mit dem Beschluss des Änderungsantrags würde der Gemeinderat die Chance auf einen wirklichen Fortschritt im Umgang mit der Ressource Boden vergeben. Sie beantrage daher, zunächst über den unveränderten Beschlussantrag der Vorlage abzustimmen. Diesem Antrag schließt sich StR Dr. Kienzle an.

Nach Ansicht von StR Kanzleiter (SPD) wird hier eine "Gespensterdebatte" geführt, denn im Grunde werde ein Konzept beschlossen, das unstrittig ist und auch durch den Änderungsantrag nicht in Frage gestellt wird. Seine Fraktion sei der Auffassung, dass es darauf ankomme, das Konzept mit breiter Mehrheit zu beschließen. Dass die Verwaltung den Änderungsantrag zur Beschlussgrundlage machen will, sei das kleinere Problem. Entscheidend sei, sich mit der Frage des Bodenverbrauchs auseinanderzusetzen. EBM Föll dürfe nicht ständig Flächen zur Bebauung fordern. Der Innenentwicklung müsse der Vorrang vor der Außenentwicklung gegeben werden. Seiner Fraktion sei klar, dass man hier in der Region auf die Wirtschaft angewiesen sei, aber man wolle auch die ökologischen Themen aktivieren.

BM Hahn nimmt an, dass bereits vor dem Jahr 2060 kein Boden mehr verbraucht wird; eine "Kampfabstimmung" sei daher nicht nötig. Der Änderungsantrag enthalte - bis auf die Jahreszahl 2060 - im Grunde alle wesentlichen Punkte des ursprünglichen Beschlussantrags.

Ihr gehe es darum, so StRin Küstler, dass man sich um eine ernsthafte Umsetzung bemüht. Es könne sein, dass der Bodenverbrauch bereits vor 2060 gestoppt wird, aber bis dahin könne auch noch sehr viel Schaden angerichtet werden. Notwendig sei eine Selbstverpflichtung des Gemeinderats.


OB Dr. Schuster stellt zunächst den unveränderten Beschlussantrag der GRDrs 27/2006 zur Abstimmung und hält fest:

Der Gemeinderat lehnt den Beschlussantrag bei 19 Ja-Stimmen mehrheitlich ab.


Danach wird über den veränderten Beschlussantrag laut Antrag Nr. 59/2006 abgestimmt. Der Vorsitzende stellt fest:

Der Gemeinderat beschließt bei 2 Nein-Stimmen und 12 Enthaltungen mehrheitlich den nachfolgend aufgeführten Beschlussantrag:

1. Der Gemeinderat spricht sich für die Einführung von Teil II zum "Bodenschutzkonzept Stuttgart" (BOKS II) aus und nimmt zur Kenntnis, dass eine nachhaltige Stadtentwicklung maßgeblich von der Minderung des Neuverbrauchs an Böden abhängt.

2. Aus diesem Grund soll im Zuge der Bauleitplanung

2.1 das Funktionspotenzial der hoch- und sehr hochwertigen Böden in hohem Maß gesichert werden, indem der haushälterische Umgang mit Boden grundsätzlich über die gezielte Bewirtschaftung eines "Bodenkontingents" auf der Grundlage von 1.000 Bodenindex-Punkten gesteuert wird,

2.2 die Rate der Neuinanspruchnahme schrittweise so reduziert werden, dass die Aufzehrung des "Bodenkontingents" vermieden oder möglichst lange hinausgezögert wird. Gleichzeitig soll der Bedarf an Boden schon heute vorrangig und im Fall einer Aufzehrung des "Bodenkontingents" möglichst vollständig im heutigen Innenbereich gedeckt werden.

3. Die Verwaltung wird mit der Umsetzung o. g. Ziele beauftragt, wobei

3.1 in den Erläuterungen zur jeweiligen Bauleitplanung der Punktestand des "Bodenkontingents" fortlaufend zu aktualisieren und darzustellen ist und

3.2 alle 2 Jahre, spätestens aber bei jeder Fortschreibung des FNP, eine Bilanz zum Bodenverbrauch vorzulegen ist und bei Überbewirtschaftungen Vorschläge für Kurskorrekturen zu unterbreiten sind.