Anfrage vom 05/10/2004
Nr. 173/2004

Anfrage
Stadträtinnen / Stadträte - Fraktionen

Küstler Ulrike (PDS), PDS im Stuttgarter Gemeinderat
Betreff

Ausweisungen wegen Armut


Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit und der offenen und verschämten Armut in Stuttgart bitte ich um Beantwortung folgender Fragen:

1. Wie hoch war in den vergangenen sechs Jahren jeweils die Zahl an unter Verweis auf die §§ 45 Abs. 1 und 46 Ziff. 6 AuslG ausgewiesenen Nichtdeutschen in Stuttgart?

2. Aus welchen Staaten stammten diese Menschen, wie alt waren diese Menschen und wie lange lebten sie in Deutschland?

3. Wurde wegen dieser aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die Stadt auch in verwaltungsgerichtliche Prozesse verstrickt? – Wenn ja, mit welchem Ausgang?

4. Erhalten die betroffenen Menschen vor der Ausfertigung einer auf die o.g. Bestimmung gestützten Ausweisungsverfügung die Gelegenheit zu einer umfassenden Anhörung, auch unter Einschluss von Sozialdiensten oder Vereinen zur Wahrung der Interessen von Nichtdeutschen, um der Stadt ihre Situation und besondere Problematik darzulegen?

5. Werden im Zusammenhang mit der Einleitung von Maßnahmen der Hilfe zur Arbeit (§§ 18 ff. BSHG) auch nichtdeutsche Personen in entsprechender Weise berücksichtigt, d.h. erhalten auch diese Menschen Gelegenheit, sich (wieder) beruflich einzugliedern?

6. Welche Vorstellungen hat die Stadt, um das hohe Ausmaß an “verschämter Armut” unter nichtdeutschen Personen in Stuttgart abzubauen?
Wie kann hier ein Verfahren umgesetzt werden, das auch diesen Menschen zu ihrem Recht auf Sozialhilfe verhilft, ohne dass diese Personen stets Angst davor haben zu müssen, wegen eines Leistungsbezugs ausgewiesen zu werden?


Begründung:

“Stadt plant Sparaktion bei der Sozialhilfe” lautete die Überschrift eines im Lokalteil der Stuttgarter Nachrichten bereits am 12. März 1998 (Nr. 59, Seite 22) abgedruckten Artikels, der die damalige Ankündigung des Stuttgarter Ordnungsbürgermeisters Beck (CDU) zum Ausgangspunkt hatte, derzufolge ungefähr 200 in unserer Stadt lebende Menschen, die aus nicht der Europäischen Union angehörenden Staaten stammen, die von ihnen bezogenen Leistungen der Sozialhilfe gestrichen sowie erforderlichenfalls ausgewiesen werden würden.
Angesprochen waren dort Maßnahmen, denen städtischerseits ein Einsparpotential in Höhe von vier bis zwölf Millionen DM beigemessen wurde.

Der hier gesetzte, besondere Akzent auf eine verschärfte Überprüfung von in unserer Stadt lebenden, mittellosen Mitbürgern nichtdeutscher Nationalität führte aber auch dazu, dass sich selbst EU-Bürger aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber sahen. Überdies wurden über diese Vorgehensweise in großer Zahl MigrantInnen in einem als erheblich einzuschätzenden Ausmaß verunsichert. Nirgendwo ist die “verschämte Armut”, die Nichtbeantragung von Sozialleistungen trotz Bedürftigkeit, derart hoch ausgeprägt wie bei nichtdeutschen Einwohnern.

Den bestehenden Gesetzen nach besteht eine von jeder unteren Verwaltungsbehörde zu beachtende Kongruenz zwischen der ausländerrechtlichen Mitteilungspflicht (§ 76 Abs. 2 AuslG) sowie der sozialdatenschutzrechtlichen Offenbarungsbefugnis (§ 71 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1 a) SGB X).

Gemäß § 45 Abs. 1 AuslG “kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt (…) sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt”.
Es handelt sich hier um eine polizeiliche Generalklausel, deren Tatbestand insbesondere durch die einzelnen Ausweisungsgründe des § 46 Ziff. 6 AuslG näher konkretisiert wird.
Gemäß § 46 Ziff. 6 AuslG kann ein Ausländer “insbesondere ausgewiesen werden”, wenn er für sich selbst, seine Familienangehörigen, die sich im Bundesgebiet aufhalten und denen er zum Unterhalt verpflichtet ist oder für Personen in seinem Haushalt, denen er Unterhalt gewährt oder zugesagt hat, Leistungen der “Sozialhilfe in Anspruch nimmt oder in Anspruch nehmen muss”.
Der Gesetzgeber regelt an dieser Stelle eine sog. Ermessensausweisung. Eine untere Verwaltungsbehörde ist in diesem Zusammenhang zwar berechtigt, einen entsprechenden Verwaltungsakt zu erlassen, unterliegt aber keiner unbedingten Handlungspflicht.
Ein Ausländeramt hat das ihr hier eingeräumte Ermessen pflichtgemäß wahrzunehmen, d. h. für den jeweiligen Einzelfall eine Ermessensentscheidung zu treffen und zu begründen.
Wenn auch das Selbstverständnis der §§ 45 Abs. 1 und 46 Ziff. 6 AuslG auch darin besteht, im Bundesgebiet lebende, fortlaufend und mit ungewisser Dauer auf die Gewährung von Leistungen nach dem BSHG angewiesene Nichtdeutsche unter besonderen Voraussetzungen der Fürsorge ihres Heimat-/Herkunftsstaates zuzuweisen, so hat aber bei einer Ausweisungsentscheidung stets auch auf die Art und Dauer des Aufenthalts im Inland, die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen sowie auf deren Bindungen zum Heimat-/Herkunftsstaat, ihre Reisefähigkeit und weitere, wichtige Faktoren (wie zu erwartende Änderungen der tatsächlichen Gegebenheiten) abgestellt zu werden.

Es hat sich in den vergangenen Jahren in Stuttgart zudem gezeigt, dass auch zwischenstaatliche Vereinbarungen wie das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) und die EWG-Freizügigkeitsverordnung keinen absoluten Schutz vor einer Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit bieten konnten, auch wenn die jeweils von dieser Maßnahme betroffenen Nichtdeutschen einem Staat der Europäischen Union angehörten und zu ihrem Heimatstaat seit Langem keinerlei Bindungen mehr hatten.

Ulrike Küstler