Anfrage vom 11/07/2003
Nr. 496/2003

Anfrage
Stadträtinnen / Stadträte - Fraktionen

Küstler Ulrike (PDS), PDS im Stuttgarter Gemeinderat
Betreff

Sozialdetektive

In einem Artikel der „Stuttgarter Nachrichten“ am 4. September 2003 mit dem Titel „Sozialhilfebetrug: 98 Anzeigen im Jahr 2002“ von Eva Funke wurde dargestellt, wie ein Mitarbeiter des Sozialamtes der Landeshauptstadt Stuttgart sich „mit detektivistischem Spürsinn und Fingerspitzengefühl“, bewaffnet mit „Pfefferspray“, häufig auf der Grundlage von anonymen Hinweisen von Nachbarn, auch in Bezug auf „die Inspektion von Schlafzimmern“ von SozialhilfeempfängerInnen „am sehr frühen Morgen“ betätigt. Dieser Artikel schildert offenbar Einzelheiten des Arbeitsalltags eines Mitarbeiters der Ermittlungsdienstes des Sozialamtes.

Dazu bitte ich um die Beantwortung folgender Fragen von grundsätzlicher Bedeutung:

1. Am 1. Februar 1999 vereinbarten das Innenministerium Baden-Württemberg sowie die kommunalen Spitzenverbände, Landkreis- und Städtetag, eine „Gemeinsame Empfehlung zur Zusammenarbeit von Sozialleistungsbehörden und Polizei“. In diesem Papiers wurde auch festgehalten, dass „in allen Fällen, in denen konkrete Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass jemand in betrügerischer Absicht Sozialleistungen beantragt oder erhalten hat“, das mit einem solchen Tatbestand konfrontierte Sozialamt stets die Strafverfolgungsbehörden informiert.

Frage: Wie wird in Stuttgart dieser Anforderung entsprochen?

2. Die „Stuttgarter Nachrichten“ zitieren den städtischen Mitarbeiter mit: „Ich kontrolliere aber auch, ob die angeblich allein lebende Frau nicht vielleicht doch in einem eheähnlichen Verhältnis lebt“ sowie „Ich komme bei begründeten Zweifeln“. Das spricht eher gegen eine Berücksichtigung der Vereinbarung, die in einem derartigen Fall die Einschaltung der Polizei vorschreibt.

Frage: Wurde in dem beschriebenen Fall nicht bereits gegen die oben genannte Empfehlung verstoßen? Müsste nicht schon in diesem Stadium die Angelegenheit an die Polizei abgegeben werden?

3. Weiter ist in dem Artikel von Eva Funke folgende Äußerung dieses Amtsträgers abgedruckt: „Die meisten lassen mich in die Wohnung, wenn ich ihnen erkläre, dass sie verpflichtet sind, an der Aufklärung mitzuwirken.“

Fragen:

a) Welches Gesetz gestattet es einem Sozialamtsmitarbeiter, in dieser Weise SozialhilfeempfängerInnen gegenüber aufzutreten? Welche Norm schränkt in vollkommen unumstrittener Weise das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ein? Wo regelt der Gesetzgeber die Pflicht einer/eines SozialhilfeempfängerIn, dem Ermittlungsdienst auf Aufforderung zu jedem Zeitpunkt und in jedem Stadium des Verwaltungsverfahrens auch Zutritt in die intimsten Lebensbereiche zu geben?

b) Gibt es Gerichtsentscheidungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart und des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg, die eine entsprechende Vorgehensweise der Mitarbeiter des städtischen Ermittlungsdienstes billigen?

c) Wie reagieren „Siegfried L.“ und seine Kollegen, wenn ein/e Sozialhilfe- empfänger/-in eine „Inspektion von Schlafzimmern am sehr frühen Morgen“ – ganz oder teilweise - nicht erlaubt? Verschafft sich das Personal des Ermittlungsdienstes auch gewaltsam Zutritt zur Wohnung (oder manchen hierin liegenden Räumen) von Beziehern/Bezieherinnen von Sozialhilfe oder wird lediglich damit gedroht, dass es in jedem Fall die sofortige Einstellung der Gewährung von Leistungen nach sich zieht, wenn keine Kontrolle stattfinden kann?

4. §102 Abs. 1 BSHG (Fachkräfte) schreibt vor: „Bei der Durchführung dieses Gesetzes sollen Personen beschäftigt werden, die sich hierfür nach ihrer Persönlichkeit eignen und in der Regel entweder eine ihren Aufgaben entsprechende Ausbildung erhalten haben oder besondere Erfahrungen im Sozialwesen besitzen.“

Frage: Wie stellt die Sozialverwaltung der Landeshauptstadt Stuttgart sicher, dass die Mitarbeiter des Ermittlungsdienstes diesen gesetzlichen Anforderungen gerecht werden? Handelt es sich hier um soziale Fachkräfte (z.B. Dipl.-Sozialarbeiter/ -pädagogen), die auch im Einzelfall direkt und unmittelbar persönliche Hilfe leisten können?

Für den Fall, dass beim Ermittlungsdienst keine sozialen Fachkräfte beschäftigt sein sollten: Stellt es die Regel dar, dass „Siegfried L.“ und seine Mitarbeiter jeweils allein ihrem Dienst nachgehen? Werden diese städtischen Amtsträger hierbei in keinem Fall z. B. von Mitarbeiten/Mitarbeiterinnen des Allgemeinen Sozialdienstes begleitet, welche auch Leistungsanträge aufnehmen und die Gewährung weiterführender Hilfen einleiten können?

5. Artikel wie der in den „Stuttgarter Nachrichten“ am 4. September 2003 abgedruckte Bericht von Eva Funke sind auch geeignet, bei Sozialhilfeempfänger/ -empfängerinnen dergestalt Angst zu erzeugen, dass mittellose Menschen davon absehen, Hilfe zu beantragen, weil sie befürchten, dass ihnen dann das Sozialamt sofort einen „Fahnder mit detektivistischem Spürsinn“ in die Wohnung schickt.

Frage: Wie stellt sich die Sozialverwaltung zu dieser Einschätzung? Werden von der Sozialverwaltung konkrete Anstrengungen unternommen , um auch in „verschämter Armut“ lebende Menschen zu einer Antragstellung zu motivieren. Werden spezielle aufsuchende Hilfen – nicht nur im Zusammenhang mit „Hausprüfungen“ – vom Sozialamt angeboten?

6. „98 Anzeigen im Jahr 2002“ bei einer Gesamtzahl von 21.344 Hilfeempfängern/ emfängerinnen in diesem Jahr bedeuten eine ausgesprochen geringe registrierte Missbrauchsquote von weniger als 0,5 %. Gleichzeitig wird aber vermutet – exakte Daten liegen hier leider nicht vor –, dass auf einen Empfänger/eine Empfängerin von Leistungen nach dem BSHG ungefähr eine weitere Person kommt, die – aus Unwissenheit, Scheu vor einer Kontaktaufnahme mit Behörden oder (bei Ausländern/-innen) Angst vor Ausweisung – trotz Mittellosigkeit keine Hilfen zum Lebensunterhalt beantragt.

Fragen:

a) Was tut die Stadtverwaltung, um den verschämten Armen den Zugang zu Hilfen zu erleichtern, wie es der sozialen Verpflichtung der Stadt und der Achtung der Menschenwürde dieser Personen entspricht?

b) Was tut die Stadtverwaltung, um der Verbreitung von Vorurteilen, wie sie aus Zeitungsberichten wie dem zitierten entstehen können, zu begegnen? Beabsichtigt die Stadtverwaltung Hinweise an die Medien über die geringe Anzahl von Missbrauchsfällen in Relation zur Anzahl der Hilfsbedürftigen?

Ulrike Küstler