Beantwortung zur Anfrage
167/2007

Landeshauptstadt Stuttgart Stuttgart, 09/05/2007
Der Oberbürgermeister
GZ: 5012-08



Beantwortung zur Anfrage
Stadträtinnen/Stadträte - Fraktionen
    Dr. Löffler Reinhard (CDU), Ripsam Iris (CDU), Dr. Unold Ilse (CDU), Prof. Dr. Loos Dorit (CDU), Metke Christina (CDU), Schorn Stefanie (CDU)
Datum
    03/30/2007
Betreff
    Kollektiver Alkoholkonsum Jugendlicher
Anlagen
    Text der Anfragen/ der Anträge
Beantwortung/ Stellungnahme:

1. Ist in Stuttgart das kollektive „Koma-Trinken“ oder „Flatrate-Saufen“ Jugendlicher ein Problem, das im Wachsen begriffen ist?

Seit einigen Jahren nehmen die Meldungen des Polizeipräsidiums Stuttgart über Einsätze im Zusammenhang mit alkoholisierten Jugendlichen zu, so dass davon auszugehen ist, dass auch in Stuttgart - dem bundesweiten Trend entsprechend - der Konsum von Alkohol im öffentlichen Raum zugenommen hat. Bei der Mehrzahl der Vergnügungssuchenden steht dabei nicht das Koma-Trinken, also das Trinken bis zur Besinnungslosigkeit im Vordergrund, sondern eher das gemeinsame „Anheizen“ um sich in Stimmung zu bringen.

Das so genannte „Koma-Trinken“ oder „binge-drinking“ tritt in organisierter Form – eine große Zahl von Jugendlichen verabreden sich über Handy oder Internet zum „Koma-Trinken“ an einen bestimmten Platz – in Stuttgart sehr selten auf. So gab es im Jahr 2006 ein „binge-drinking“ am Schlossplatz, das vom Polizeipräsidium Stuttgart unterbunden wurde und ein Bierkastenrennen durch die mittlere Schloßgar­tenanlage, das der Städtische Vollzugsdienst zusammen mit dem Polizeipräsidium Stuttgart beendete.

Konkrete Zahlen zum Problemkreis Jugend und Alkohol gibt es nur für die Altersklasse der 14 – 16-jährigen:

Die im Rahmen der Stuttgarter Jugendgesundheitsstudie im Herbst 2005 erhobenen Daten zum Alkoholkonsum von Schülern der 8. und 9. Klassen haben ergeben, dass etwa ein Drittel der befragten Jugendlichen in dieser Altersstufe in Stuttgart nie Alkohol trinkt. Etwa 50 % konsumieren gelegentlich Alkohol und knapp 15 % trinken mindestens einmal in der Woche Alkohol (regelmäßiger Alkoholkonsum).
Im Vergleich zur internationalen HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children, 2002) konsumieren Jugendliche in Stuttgart damit seltener regelmäßig Alkohol.

Für Stuttgart lässt sich jedoch auch feststellen, dass der Konsum im öffentlichen Raum drastisch zugenommen hat und dass die öffentliche Zurschaustellung des Alkoholkonsums einen größeren Stellenwert einnimmt. Aus diesem Grund ist das Problem in der Öffentlichkeit präsenter und wird bewusster wahrgenommen.

Auffällig ist, dass vielen Kindern und Jugendlichen das Problembewusstsein beim Thema Alkohol fehlt. Oft können sie selbst nicht einschätzen, wie viel sie trinken können und womit sie sich schaden. Dies verdeutlicht u.a. die Zahl von 149 minderjährigen Patienten und Patientinnen, die im Jahr 2006 wegen einer akuten Alkoholintoxitation im Olgahospital behandelt wurden (vgl. Ziffer 5).


2. Sind der Verwaltung Veranstalter und Gaststätten in Stuttgart bekannt, die Alkohol zum „Festpreis“ anbieten?


Aus Polizeimitteilungen, Hinweisen aus der Szene und Internetrecherchen wurden bisher vier Gastrobetriebe ermittelt, die reine sog. „Flatrate-Angebote“ offerierten. Die Betreiber wurden von der Gaststättenbehörde über die Rechtslage informiert und auf mögliche gaststättenrechtliche Konsequenzen hingewiesen. Alle vier Betreiber haben daraufhin ihr Betriebskonzept geändert.

Zwei weitere Betriebe wurden aufgrund von Hinweisen durch Polizei und Gaststättenbehörde kontrolliert. Es waren keine sog. „Flatrate-Angebote“ festzustellen.

Derzeit sind der Gaststättenbehörde keine Betreiber mehr bekannt, die sog. „Flatrate-Angebote“ im Programm haben oder unbegrenzt Alkohol zum „Festpreis“ anbieten.


3. Kann diesen Anbietern mit Mitteln des Gaststätten- oder Polizeirechts untersagt werden, Events oder Veranstaltungen zum „Flatrate-Saufen“ zu bewerben und zu betreiben, die als Zielgruppe Jugendliche und junge Erwachsene haben? Ist die gaststättenrechtliche Konzession widerrufbar?

Grundsätzlich sind Pauschalangebote (z.B. auch „all-you-can-eat“) nicht verboten. Ein Gastwirt darf nach den Bestimmungen des Gaststättenrechts jedoch weder der Trunksucht Vorschub leisten noch Alkohol an erkennbar Betrunkene ausschenken. Im Jugendschutzgesetz ist u.a. die Abgabe von harten Alkoholika an Jugendliche verboten.

Die Durchführung solcher Veranstaltungen kann mit Mitteln des Gaststättenrechts untersagt werden, wenn sie gaststättenrechtlichen Vorschriften zuwider läuft oder wenn sie eine Gefährdung für die Entwicklung der Jugendlichen darstellt. Hierzu muss die Behörde den Nachweis führen, dass durch eine solche Veranstaltung oder durch die Werbung für eine solche Veranstaltung der unkontrollierte exzessive Alkoholkonsum oder das Durchhaltevermögen beim Alkoholkonsum zu einem besonderen, erstrebenswerten Erlebnis hochstilisiert wird.

Bei wiederholten, nachhaltigen Zuwiderhandlungen gegen Bestimmungen des Gaststättenrechts und/oder des Jugendschutzgesetzes kann die Gaststättenerlaubnis widerrufen werden.


4. Verfolgt die Ordnungsbehörde im Internet die Angebote zum „Koma-Trinken“ oder „Flatrate-Saufen“ und welche Maßnahmen werden ergriffen?

Sofern Erkenntnisse über die Polizei oder andere Stellen mitgeteilt werden, wird
diesen Informationen nachgegangen. In Verdachtsfällen wird mit dem jeweiligen Betreiber Kontakt aufgenommen. Fragliche Veranstaltungen werden durch Polizei und Behörde überprüft. Das gleiche gilt auch für Zusagen betroffener Gastronomen, ihr Betriebskonzept umstellen zu wollen.


5. Gibt es eine Statistik, wie viele Jugendliche nach solchen Veranstaltungen ärztlich behandelt worden sind?

Alkoholisierte Jugendliche werden üblicherweise ins Olgahospital eingewiesen. Eine genaue Statistik, wie viele Jugendliche nach speziellen Veranstaltungen eingeliefert bzw. ärztlich behandelt werden mussten, existiert nicht. Es können nur allgemeine statistische Daten über Jugendliche, die wegen Alkoholintoxikation im Olgahospital behandelt wurden, aufgeführt werden:
17 Jugendliche im Jahr 2000
22 Jugendliche im Jahr 2001
38 Jugendliche im Jahr 2002
37 Jugendliche im Jahr 2003
49 Jugendliche im Jahr 2004
70 Jugendliche im Jahr 2005
149 Jugendliche im Jahr 2006
77 Jugendliche im 1. Halbjahr 2007


6. Registrieren die Ordnungsbehörden nach solchen Veranstaltungen eine Zunahme von Sachbeschädigungs- und Körperverletzungsdelikten?

Bedingt durch die hohe Dichte des gastronomischen Angebotes gerade in der Stuttgarter Innenstadt sind Sachbeschädigungen und Körperverletzungsdelikte – die sich häufig auf den öffentlichen Straßen und Plätzen abspielen – i.d.R. keinem konkreten Gastronomiebetrieb zurechenbar. Nach polizeilichen Erkenntnissen ist jedoch festzustellen, dass im Umfeld von Veranstaltungen, die eine eher jüngere Zielgruppe ansprechen, ein alkoholbedingt höheres Aggressionspotential zu einer Häufung von Körperverletzungen usw. führen kann. Wird dies festgestellt, wird behördlicherseits eingeschritten. So wurde beispielsweise einer Diskothek in der Stuttgarter Innenstadt die Ausnahmegenehmigung zur Durchführung von Jugenddiscos für Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren widerrufen, nachdem es immer häufiger auf dem Platz vor der Diskothek zu verabredeten Massenschlägereien und Alkoholexzessen der Jugendlichen gekommen war.


7. Reichen bestehende präventive Maßnahmen und Aufklärungsarbeit oder bedarf die Erscheinungsform „kollektiver Alkoholrausch“ neuer und zusätzlicher präventiver Maßnahmen und welche Überlegungen hat die Verwaltung hierfür?

Im Klinikum Stuttgart werden folgende präventive Maßnahmen angeboten:
Im Olgahospital: Fortbildungsveranstaltungen (Reihenveranstaltung) für Schulkinder unter dem Motto „Was euch betrifft …“ (in 2006 vier Vorträge über Alkopops). Im Zentrum für Seelische Gesundheit: Gruppenangebot „MOBI“ (Motivation, Beratung, Information für 16 – 25 jährige mit Alkohol- und Cannabiskonsum) sowie innerhalb des durch die Landesstiftung Baden-Württemberg geförderten Programms „Projekt 4 Zugangswege“: „Alkohol- und Nikotinprävention bei Kindern und Jugendlichen mit familienorientiertem Präventionsansatz“. Ziele sind die Förderung der Selbstwirksamkeit der Kinder und Jugendlichen sowie gezielte Hilfeangebote für die Eltern.

In der gemeinsamen Sitzung von Jugendhilfe-, Sozial- und Gesundheitsausschuss am 09.10.2006 (siehe GRDrs 690/2006) wurde die Verwaltung beauftragt ein Handlungskonzept „Jugend und Alkohol“ zu erstellen. Die Konzeption wurde unter Federführung der Beauftragten für Suchtprophylaxe gemeinsam mit den Mitgliedern des Arbeitskreises Suchtprävention erarbeitet. Sie wurde in der Sitzung des Sozial- und Gesundheitsausschusses am 2. Juli 2007 (GRDrs. 224/2007) behandelt.

Begleitend zu diesen präventiven Lösungsansätzen haben Polizei, Ordnungsamt und Jugendamt ein Konzept erarbeitet, das dem kollektiven und exzessiven Alkoholmissbrauch – nicht nur Jugendlicher – entgegen wirkt. Über das unter Ziffer 3 erläuterte Vorgehen gegen Gastrobetriebe hinaus ist geplant, ganz gezielt Jugendliche oder junge Erwachsene, die mehrfach durch alkoholbedingte Ordnungsstörungen in der Innenstadt auffällig wurden, mit Platzverweisen und auch längerfristigen Aufenthaltsverboten für bestimmte Bereiche zu belegen. Zudem erfolgt bei mehrfachem exzessivem Alkoholgenuss eine Meldung an die Führerscheinstelle. Durch diese Maßnahmen und durch ein konsequentes Einschreiten insbesondere gegen Rädelsführer einzelner Gruppierungen und Cliquen und der damit einhergehenden „Ernüchterung“ bei den Betroffenen erhoffen sich die beteiligten Behörden eine schrittweise Zurückführung der Situation auf einen für eine Großstadt erträglichen Zustand.

Die Polizei, das Jugendamt und freie Träger (Jugendhaus gGmbH und der Dachverband Mobile Jugendarbeit) haben ein gemeinsames Konzept erarbeitet, um zum einen Präsenz in der Innenstadt zu zeigen und zum anderen den Anforderungen des Jugendschutzes gerecht zu werden. Die Bereitstellung der personellen und finanziellen Ressourcen für die Testphase übernehmen die Träger der Jugendhilfe und das Jugendamt auf freiwilliger Basis für die nächsten Monate.





Dr. Wolfgang Schuster