Landeshauptstadt Stuttgart Stuttgart, 07/24/2009
Der Oberbürgermeister
GZ: OB 7831-10.00
Stellungnahme zum Antrag
Stadträtinnen/Stadträte - Fraktionen
Bündnis 90/DIE GRÜNEN-Gemeinderatsfraktion
Datum
07/22/2009
Betreff
Konkretisierung: Bürgerentscheid zu Stuttgart 21
Anlagen
Text der Anfragen/ der Anträge
Beantwortung/ Stellungnahme:
Zu 1.
Es ist nicht erkennbar, dass es gegenwärtig eine zulässige Fragestellung für ein Bürgerbegehren oder einen Bürgerentscheid gegen die Beteiligung der Landeshauptstadt am Bahnprojekt Stuttgart 21 gibt.
Die Verwaltung vertritt weiter die Auffassung, dass die Verträge zum Projekt Stuttgart 21 keinerlei Spielraum für eine Bürgerbeteiligung in Form des Bürgerentscheids mehr lassen. Diese Auffassung wird nicht nur vom RP Stuttgart und allen von der Stadt bisher eingeschalteten Juristen geteilt. Aus der mündlichen Verhandlung vor dem VG Stuttgart am 17.07.2009 über das 2007 initiierte Bürgerbegehren ist zu schließen, dass auch das Verwaltungsgericht dieser Meinung ist. Unter anderem hat das Verwaltungsgericht deutlich darauf hingewiesen, dass nach einem elementaren Rechtsgrundsatz einmal geschlossene Verträge einzuhalten sind (pacta sunt servanda). Die schriftliche Urteilsbegründung liegt allerdings noch nicht vor. Sie muss zunächst abgewartet und das Urteil muss gründlich analysiert werden. Jedes andere Vorgehen wäre unverantwortlich und ein Affront gegen die Rechtsprechung, die zu beachten die Stadt verpflichtet ist.
1. Der Antrag 277/2009 der Fraktion Bündnis 90 / DIE GRÜNEN in der konkretisierten Fassung vom 22.07.2009 (285/2009) enthält keine zulässige Fragestellung für einen Bürgerentscheid. Ein Auftrag an den Oberbürgermeister, mit den Vertragspartnern des Projekts Stuttgart 21 über eine Aufhebung der geschlossenen Verträge zu verhandeln, wäre zwecklos. Eine aktuelle Nachfrage bei allen Vertragspartnern hat eindeutig ergeben, dass keiner von ihnen an einer Aufhebung der Verträge und damit an einer Beendigung des Projekts Stuttgart 21 interessiert ist und auch nur im Ansatz darüber verhandeln will. Angesichts dessen hätte ein Verhandlungsauftrag keine Basis. Wer anderes behauptet, setzt die mit dem Bürgerbegehren von 2007 eingeleitete Täuschung der Bürgerinnen und Bürger fort und schadet der Stadt.
Im Falle eines Bürgerentscheids oder einer Bürgerbefragung muss auch dargestellt werden, welche Folgen es für die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger hätte, wenn das Projekt Stuttgart 21 nicht käme. Dies würde bedeuten:
Aus rein technischen Gründen müsste wenigstens eine Generalsanierung des Stuttgarter Hauptbahnhofs incl. Gleisvorfeld, Bahndämmen, Brückenbauten u.a.m. mit Kosten von ca. 1, 2 Milliarden Euro und einer Bauzeit von etwa 12 Jahren folgen, und zwar unter laufendem Betrieb mit ständigen Behinderungen für die Bahnkunden und Belästigungen für die Bewohner der angrenzenden Gebiete. Damit wäre aber noch keinerlei Steigerung der verkehrlichen Leistungsfähigkeit gegeben, die unabweisbar ist.
Eine solche Leistungssteigerung strebt zwar der von den Gegnern des Projekts Stuttgart 21 befürwortete Vorschlag „K21“ an. Dennoch stellt „K 21“ keine Alternative zu Stuttgart 21 dar. Abgesehen davon, dass ein anderes Projekt als Stuttgart 21 weder im einzelnen durchgeplant noch genehmigt oder gar rechtlich abgesichert ist, müsste mit ihm eine Schnellbahnstrecke durch den Schlossgarten, durch das bereits dicht bebaute Neckartal und durch das Körschtal gebaut werden, die mit unvertretbaren Eingriffen in Natur- und Siedlungsgebiete einhergeht – oder aber mit längeren und teureren Tunneln als im Projekt Stuttgart 21. Die voraussichtlichen Kosten würden mit Stand 2004 auf mindestens 2,5 Milliarden Euro für oberirdische Lösungen geschätzt, ohne Baukostensteigerungen und Baukostenrisiken. Legt man die Berechnungen von Vieregg-Rössler zugrunde, könnten die Kosten unter Berücksichtigung der bei K 21 erforderlichen Tunnelbauten bis zu 7 Milliarden Euro betragen.
Die Deutsche Bahn hat nach Abschluss der Planfeststellung und Rechtskraft der Planfeststellungsbescheide keine Wahlfreiheit, ob sie Stuttgart 21 oder eine andere Variante realisiert. Sie hat ein rechtlich verbindliches Betriebskonzept für den Bahnknoten Stuttgart zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Schienenverkehrs zu realisieren. Sie genauso wie der Bund oder das Land Baden-Württemberg kann und will kein anderes Projekt als Stuttgart 21 bauen und es noch weniger finanzieren. K 21 wäre dann nur als ein Projekt der Stadt zu verstehen, die damit den größten Anteil an den Kosten bezahlen müsste, nach dem Grundsatz „Wer bestellt, bezahlt“.
Die Landeshauptstadt müsste diese Summen, die rechnerisch einer Belastung jedes Einwohners der Stadt, ob Jung oder Alt, ob Rentner oder Kleinkind, Sozialhilfeempfänger oder Arbeiter, mit mehr als 10.000 € entsprechen würde, alleine schultern. Dies macht deutlich, dass die Stadt ihre originären Aufgaben wie Schulen, Kindergärten, Straßen, kulturelle und soziale Einrichtungen und Verpflichtungen über längere Zeit nicht mehr wahrnehmen könnte. Zum Vergleich: die finanzielle Beteiligung an Stuttgart 21 beträgt gerade einmal 31,6 Millionen Euro, ihre maximale finanzielle Risikobeteiligung 160 Millionen Euro, denen allein im Zeitraum von 2010 bis 2034 zusätzliche direkte Einnahmen aus Steuern und Finanzzuweisungen in der vorsichtig geschätzten Höhe von mindestens 300 Mio. € gegenüberstehen.
Nicht vergessen werden darf auch, dass die ganze Wirtschaftsregion Stuttgart bei einer anderen Lösung als Stuttgart 21 ein gerade mit Blick auf den Regionalverkehr schlechteres Ergebnis erhielte. Hinzu kommt, dass die großen städtebaulichen Chancen nicht oder nur sehr bedingt wahrgenommen werden könnten. Nur Stuttgart 21 bietet die enorme städtebauliche Chance, 100 Hektar für Wohnen, Arbeiten und Leben in urbanen Modellquartieren des 21. Jahrhunderts zu gestalten.
Auch dies müsste bei einem Bürgerentscheid/Bürgerbefragung dargestellt werden.
2. Die Fraktion Bündnis 90 /DIE GRÜNEN strebt nach dem Einleitungssatz ihres Antrags vom 17.07.2009, der durch den Antrag vom 22.07. lediglich konkretisiert und damit ergänzt worden ist, den „Ausstieg“ der Stadt aus dem Projekt Stuttgart 21 an. Dies erweckt den Eindruck, als könnten die Vertragspartner der Stadt damit zur Aufgabe des Projekts bewegt werden. Eine solche Erwartung ist unrealistisch. Ein Ausstieg der Stadt wäre sogar rechtswidrig, wie auch das Verwaltungsgericht Stuttgart am 17.07.2009 in der mündlichen Urteilsbegründung ausgeführt hat: „Weil das auf einen Ausstieg der Beklagten“ (d.h. der Stadt) „aus dem Projekt zielende Bürgerbegehren vertraglich eingegangenen Verpflichtungen widerspricht und derzeit keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich die Beklagte z.B. durch ein einseitiges Rücktritts- oder Kündigungsrecht oder durch einen Anspruch auf Vertragsanpassung bzw. –aufhebung von den eingegangenen vertraglichen Bindungen lösen könnte, ist es mit der Rechtsordnung unvereinbar“. Abgesehen davon muss ich darauf verweisen, dass die Vertragspartner die für einen Ausstieg der Stadt notwendige einvernehmliche Vertragsänderung kategorisch ablehnen. Eine einseitige Aufkündigung der Verträge durch die Stadt wäre ein Rechtsbruch. Der Verhandlungsauftrag, auf den der Antrag abzielt, ist daher zwecklos und eine Irreführung der Öffentlichkeit.
Zu 2.
Aus Sicht der Stadtverwaltung dürfen die Bürgerinnen und Bürger nicht Fragen vorgelegt bekommen, die aus den oben dargestellten Gründen rechtlich oder tatsächlich keine reale Chance darauf bieten, in die Tat umgesetzt zu werden. Damit würden die Bürgerinnen und Bürger nur vorsätzlich in die Irre geführt.
Die Koppelung einer Bürgerbefragung mit der Bundestagswahl 2009 wirft Rechtsfragen auf, die vom Regierungspräsidium bzw. vom Innenministerium geprüft werden müssten. Unabhängig davon, ob es zulässig wäre, die Bundestagswahl mit einem Bürgerentscheid oder Bürgerbefragung zu vermischen, ist es schon aus organisatorischen Gründen nicht möglich, den Bürgerentscheid/die Bürgerbefragung schon am 27.09.2009 durchzuführen, da allein hierzu bereits ein zeitlicher Vorlauf von drei Monaten benötigt wird, um Fragen der Eignung und Verfügbarkeit der Wahlräume zu klären und die Bürger/innen fristgerecht über den Befragungstermin zu benachrichtigen. Die Verwaltung muss für die Durchführung der Bürgerbefragung wie bei einer Wahl alle Berechtigten aktualisieren und erfassen.
Darüber hinaus muss zunächst die schriftliche Begründung des Verwaltungsgerichtes abgewartet werden. Nach Prüfung und Analyse der Gründe ist dem Gemeinderat eine ausführliche Darstellung der Rechtslage mit Bewertung vorzulegen. Auf dieser Basis erst muss der Gemeinderat Fragen mit Begründung und Erläuterung beschließen.
Wenn eine Bürgerbefragung den Anspruch der Repräsentativität haben soll, ist eine Koppelung zusammen mit einer Bundestagswahl ausgeschlossen. Die Einbeziehung nur der zur Bundestagswahl wahlberechtigten Stuttgarter/innen (ca. 360 000 Personen) würde die für kommunale Wahlen und Abstimmungen wahlberechtigten Unionsbürger (ca. 41 000 Personen) von der Befragung ebenso ausschließen wie die rund 60 000 nicht-deutschen (volljährigen) Einwohner mit Hauptwohnsitz in Stuttgart, die im Übrigen bei den Bürgerumfragen des Statistischen Amtes befragt werden.
Hinzu kommt, dass bei Bundestagswahlen mehr als ein Viertel der Wahlberechtigten nicht im Wahllokal, sondern per Brief wählt. Bei den Briefwählern handelt es sich nicht um einen Querschnitt der Bevölkerung. Von der Möglichkeit der Briefwahl wird vielmehr sowohl altersstrukturell als auch soziostrukturell gesehen selektiv Gebrauch gemacht. Die Einrichtung der Briefwahlmöglichkeit für eine Bürgerbefragung ist aber alleine schon aus zeitlichen Gründen bis zur Bundestagswahl nicht mehr möglich. Eine Bürgerbefragung, die mit der Bundestagswahl 2009 gekoppelt wäre, könnte so keinen Anspruch auf Repräsentativität der Ergebnisse - weder für die Gesamtbevölkerung Stuttgarts noch für die zu kommunalen Wahlen und Abstimmungen wahlberechtigte und auch nicht für die zu Bundestagswahlen wahlberechtigte Bevölkerung – erheben.
Aus Sicht der Verwaltung kommt eine Bürgerbefragung - oder eine deutlich kostengünstigere, aber gleichermaßen aussagestarke repräsentative Bürgerumfrage (nach dem Verfahren der regelmäßigen städtischen Bürgerumfrage) - dann in Frage, wenn eine neue Sachlage eintritt und ein daraus resultierender Handlungsspielraum entsteht, der mehrere alternative kommunale Handlungsweisen zulässt. Eine solche Befragung könnte beispielsweise auch Aspekte der Planung und Bürgerbeteiligung des Europaviertels und des Rosensteinviertels umfassen. Möglich erscheint beispielsweise auch die Frage, ob sich die Stadt über die bisherige vertraglich vereinbarte Beteiligung hinaus an weiteren Mehrkosten beteiligt, wenn eine entsprechende konkrete Forderung an die Stadt gerichtet wird.