Antrag und Anfrage vom 06/18/2013
Nr. 258/2013

Antrag und Anfrage
Stadträtinnen / Stadträte - Fraktionen

SÖS und LINKE Fraktionsgemeinschaft
Betreff

Nachfragen zu Antrag und Anfrage 113/2013 "Umverlegen der Abwasser-Sammler für den geplanten ‚Tiefbahnhof Stuttgart 21’"

Stuttgart liegt am Nesenbach und – dank der acht Anrainer-Bezirke Bad Cannstatt, Hedelfingen, Mühlhausen, Münster, Obertürkheim, Stuttgart-Ost, Untertürkheim und Wangen – auch am Neckar. Die Innenstadt liegt zudem im Kessel. Diese topografischen Gegebenheiten sind angesichts des stattfindenden Klimawandels längerfristig sehr ungünstig.

Für die Beurteilung der Hochwasser-Gefährdung und der damit verbundenen Überflutungsgefahr der Stuttgarter Innenstadt sind hauptsächlich Hochwasserereignisse des Nesenbachs maßgebend. Der Nesenbach kann außerordentlich heimtückisch sein mit seinem dramatisch schnell ansteigenden Wasserstand; schwere und allerschwerste Sturzflut-Ereignisse haben die Stuttgarter Innenstadt immer wieder heimgesucht und schwer verwüstet, mit eingestürzten Häusern und auch Todesopfern, in allen Jahrhunderten seit der Stadtgründung, im Schnitt vier Mal in jedem Jahrhundert. Zum Beispiel wird im Buch Der Nesenbachvon Ulrich Gohl (Silberburg-Verlag) von schweren und schwersten Überflutungen der Stadt durch den Nesenbach berichtet, so im Jahre 1508 mit elf Toten, mehreren eingestürzten Häusern und mannshohem Wasser auf dem Marktplatz, ähnliches auch 1651, 1652, 1709, 1740, 1750, 1768, 1777, 1786, 1797, 1824, 1931, 1938, 1965, 1966 und 1972.

Aktuell und in den vergangenen Wochen erreichen uns dramatische Bilder aus vielen Teilen Deutschlands und Europas von Überflutungen mit neuen Rekordpegeln vom nun schon zweiten „Jahrhundert-Hochwasser“ nach nur elf Jahren. Dass Stuttgart hier verschont war und ist, hat nichts mit Hochwasserschutz zu tun, sondern ist bzw. war reine Glückssache.
Unseres Erachtens ist es – unabhängig ob man nun Freund oder Feind von Stuttgart 21 ist – die Pflicht der politischen Entscheidungsträger, sich damit zu beschäftigen, ob das genannte Jahrhundert-Projekt auch den immer öfter wiederkehrenden Jahrhundert-Hochwassern gewachsen ist.

Die Fraktionsgemeinschaft SÖS und LINKE nahm sich – schon vor den aktuellen Flutkatastrophen – dieser Thematik an und hat im Rahmen des Antrag und Anfrage 113/2013 „Umverlegen der Abwasser-Sammler für den geplanten ‚Tiefbahnhof Stuttgart 2’“ insgesamt 17 Fragen gestellt. Der genannte Antrag und Anfrage ging bei der Verwaltung am 4. März 2013 ein.

Die Verwaltung hat die Fragen in ihrer Beantwortung und Stellungnahme zu Antrag und Anfrage am 31. Mai 2013 – also 88 Kalendertage entsprechend 12,5 Wochen später – beantwortet.
Die an Knappheit und Unverbindlichkeit kaum zu überbietenden und zum Teil an der gestellten Frage vorbei gegebenen Antworten sind der Sache völlig unangemessen. Sie lassen darauf schließen, dass die Stadtverwaltung dieses Thema für unwichtig erachtet.
Mit einer solchen Abspeisung der ernst gemeinten Fragen missachtet die Verwaltung ihre Auskunftspflicht gegenüber dem Gremium Gemeinderat deutlich.

Wir stellen nun die folgenden Nachfragen zum Thema. Diese haben wir – um ein Durcheinander mit der Nummerierung der Ursprungsfragen zu vermeiden – ab Nr. 18 fortlaufend nummeriert:

In Frage 1 war gefragt, ob und in welcher Weise das Tiefbauamt in die Planung dieser Umlegungen einbezogen war. Ihre Antwort („Das Tiefbauamt bzw. die Stadtentwässerung Stuttgart erhielt und erhält alle erforderlichen Unterlagen vom Vorhabensträger.“) verstehen wir so, dass das Tiefbauamt überhaupt nicht an der Planung der Umlegungs-Maßnahmen beteiligt war, somit auch keinen Einfluss darauf genommen hat, ja gar nicht nehmen konnte, und sich damit begnügt hat, fertige Planunterlagen von der Vorhabensträgerin entgegen zu nehmen.

18.Trifft unsere Annahme zu?


Die Fragen 2 bis 7 sind zusammengefasst wie folgt beantwortet: „Ja, auf Grundlage der vom Institut für Wasserbau der Uni Karlsruhe (heute KIT) durchgeführten hydraulischen Modellversuche wurde die Freigabe erstellt.“
Es wird also nur bestätigt, dass eine Freigabe aufgrund eines Versuchsberichtes des KIT erteilt wurde; ob die Unterlagen im Einzelnen vom Tiefbauamt geprüft worden sind, lässt die Antwort offen.
Demnach war der Nachweis der Leistungsfähigkeit der Abwasser-Düker auf Modellversuchs-Berichte beschränkt; die sonst üblichen hydraulischen Berechnungen sind also offensichtlich gar nicht gemacht worden. Diese durch einen Modellversuch zu ersetzen, ist fragwürdig, müssen doch sämtliche Messwerte nach den Modell-Gesetzen umgerechnet werden – große Abweichungen vom tatsächlichen Verhalten sind wegen der vielen Fehler-Einflüsse unvermeidlich, die Ergebnisse nur eingeschränkt verwertbar.


19.Wurde auf hydraulischer Berechnungen verzichtet und der Nachweis der Leistungsfähigkeit nur durch einen Modellversuch geführt?
20.In welchem Maßstab wurde das/die Modell(e) am Institut für Wasserbau der Uni Karlsruhe (heute KIT) angefertigt?
21.Sind die Versuchsprotokolle und der Versuchsbericht der Modellversuche öffentlich erhältlich? Wenn ja, bitten wir um zeitnahe Zusendung. Wenn nein, warum nicht?
22.Wurde bei diesen Modellversuchen denn überhaupt der größtmögliche Abfluss der Düker im Vergleich zu den bestehenden, gerade durchlaufenden Abwasser-Kanälen ermittelt? Und falls ja, mit welchem Ergebnis?


Maßgebend ist hier unseres Erachtens, dass die bisherige größte Abflussleistung der gerade durchlaufenden Abwasser-Sammler wegen der unvermeidlichen höheren Strömungswiderstände der einzufügenden Düker und deren gänzlich anderem Fließverhalten deutlich verringert wird, was bei Starkregen-Ereignissen die Überschwemmungsgefahr in der Innenstadt vergrößert.
In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, dass die Fragen 4, 5 und 7 – in denen nach quantitativen Angaben gefragt wurde – bisher nicht beantwortet sind.
Weiterhin weisen wir darauf hin, dass die Frage 6 – in der nach detaillierter technischer Durchführung, nach Zeit-Horizonten der geplanten Maßnahmen und nach (ggfs. entstehenden) Einschränkungen bei der Abwasser-Einleitung für die Anlieger gefragt wurde – bisher nicht beantwortet ist.
Die Fragen 8 und 9 sind zusammengefasst wie folgt beantwortet: „Die Zustimmung wurde erteilt. Durch das Einmünden des Kanals Lautenschlagerstraße findet ein ungestörtes Einfließen statt. Somit stellt sich die Situation wie vor dem Umbau ein.“

Die inhaltliche Richtigkeit der Antwort bezweifeln wir stark. Als Beispiel soll hier die Betrachtung des „Längsschnitt 1-1 Düker“ Anlage 7.3.2 dienen:
Die Sohlhöhe des Düker-Oberhauptes des „Hauptsammlers West“ liegt bei 239,09 m NN, die des Abwasser-Sammlers „Lautenschlagerstraße“ am neuen Umlenkschacht beträgt 238,24 mNN; dieser liegt also 0,85 m unter dem „Hauptsammler West“, in den er eingeführt werden soll. Führt der Hauptsammler West sehr viel Wasser, so wird dann ein Rückstau im Sammler „Lautenschlagerstraße“ unvermeidlich sein, was beim heutigen Zustand gar nicht möglich ist.
Weil die „Trockenwetter-Leitung“ DN 400 des Abwasser-Sammlers „Lautenschlagerstraße“ mit einer vorgesehenen Sohlhöhe von 235,20 mNN am Schacht-Austritt 10 cm unter der Austrittskante der „Trockenwetter-Leitung“ DN 800 des „Hauptsammlers West“ liegt, ergibt sich schon bei Null-Abfluss ein Rückstau in den Abwasser-Sammler „Lautenschlagerstraße“ hinein. Bei Vollfüllung nur der Trockenwetter-Leitung DN 800 des Hauptsammlers West wird der Rückstau im Abwasser-Sammler „Lautenschlagerstraße“ dann bis in die Lautenschlagerstraße reichen. Das entspricht keineswegs dem bisherigen Zustand. Erst recht tritt eine wesentliche Beeinträchtigung der Abwasser-Ableitung aus der Lautenschlagerstraße bei Vollfüllung des Hauptsammlers West infolge eines Starkregens ein; der Rückstau kann dabei 242 mNN überschreiten. Das „sich die Situation wie vor dem Umbau einstellt“ ist also schlichtweg nicht zutreffend!


23.Trifft die Aussage zu, dass sich bei einem Starkregenereignis im Sammler „Lautenschlagerstraße“ ein Rückstau bilden kann?
24.Trifft die Aussage zu, dass sich auch bei Null-Abluss ein Rückstau bis in den Sammler „Lautenschlagerstraße“ hinein einstellt?
25.Trifft die Aussage zu, dass sich bei Vollfüllung der Trockenwetterleitung DN 800 des Hauptsammlers West ein Rückstau im Abwasser-Sammler „Lautenschlagerstraße“ bis in die Lautenschlagerstraße einstellt?
26.Trifft die Aussage zu, dass bei Vollfüllung des Hauptsammlers West der Rückstau 242 mNN überschreiten kann?


Wir weisen auch darauf hin, dass auf die Frage 9 – in der nach den Auswirkungen der auf 239,50 mNN hochgesetzten Überlaufschwelle im Abschlagbauwerk gefragt wurde – überhaupt nicht eingegangen wurde. Auf mindestens diese Höhe und damit bis weit in die Lautenschlagerstraße hinein wird dadurch das Abwasser zwangsläufig zurück gestaut, wenn der Abwasserstrom den Trockenwetter-Abfluss überschreitet.

27.Trifft die Aussage zu, dass sich bei Überschreitung des Trockenwetter-Abflusses ein zwangsläufiger Rückstau in die Lautenschlager Straße hinein auf mindestens die Höhe von 239,50 mNN einstellt?
28.Bleibt die Verwaltung im Hinblick auf die Fragen 23 bis 27 bei Ihrer Aussage, dass sich „somit eine Situation wie vor dem Umbau einstellt“?


Unabhängig von unserer Anfrage vom 4. März machen wir folgenden Einschub mit sich daraus ergebenden, weiteren Fragen:
In einer Ausstellung am Neckartor ist hinsichtlich der größten abführbaren Ablaufmenge des heutigen Nesenbachkanals die Angabe 100 m³/s angegeben; bei dem derzeitigen Kanal-Querschnitt von 7,00 x 3,60 m = 25,20 m² ergibt dies eine sehr hohe Fließgeschwindigkeit von 3,96 m/sec. Der Nesenbachdüker ist mit einem freien Gesamt-Querschnitt von 24,58 m² geplant; dies ergibt eine Fließgeschwindigkeit von 4,06 m/sec. Werden die Strömungswiderstände des Dükers insgesamt mit Σζ = 1,0 angesetzt, so benötigt der Düker eine zusätzliche Druckverlusthöhe von 0,82 m! Weil diese aber nicht vorhanden ist, kann der Nesenbachkanal nach Einfügen des Dükers keine 100 m³/s mehr abführen. Damit wird die Abflussleistung des Nesenbachkanales gegenüber dem heutigen Zustand verringert, was die Überschwemmungsgefahr für die Innenstadt bei einem Sturzregen vergrößert.

29. Beträgt die größte abführbare Ablaufmenge des heutigen Nesenbachkanals 100 m³/s, wie in der o.a. Angabe mitgeteilt? Wenn „nein“, wie viel dann?
30. Trifft die Aussage zu, dass sich die größte abführbare Ablaufmenge des Nesenbachkanals nach Einfügen des Nesenbachdükers verringert? Wenn „ja“, um wie viel m³/s? Wenn „nein“, was stimmt an der o.a. Schlussfolgerung nicht?
- Einschub Ende -

Die Frage 10 ist wie folgt beantwortet: „Die DBPB kann als Vorhabensträgerin den Bauablauf eigenverantwortlich festlegen.“
Wir bestreiten nicht, dass die DBPB als Vorhabensträgerin den Bauablauf eigenverantwortlich festlegen kann. Es bleibt allerdings die Antwort nach dem „warum wurde es so gemacht?“ offen. Da die Stadtverwaltung offensichtlich nicht Willens oder in der Lage ist, mit dem Projektpartner Deutsche Bahn Kontakt dahingehend aufzunehmen, um eine adäquate Antwort auf die tatsächlich gestellte Frage zu erhalten, hier folgende – diesmal auf die Stadtverwaltung bezogene – Nachfragen zu diesem Thema:


31.Trifft unsere Annahme zu, dass das Tiefbauamt in Planung und Genehmigung der Ausführung der Umverlegung des Abwassersammlers "Lautenschlager Straße" innerhalb der Baugrube für das Technik-Gebäude eingebunden war?
32.Hat das Tiefbauamt gegenüber dem Vorhabensträger im Rahmen der Genehmigung angemahnt, eine offensichtlich technisch einfachere und öffentliche Gelder einsparende Variante auszuführen, dass die Umverlegung des Abwassersammlers „Lautenschlagerstraße“ so zu geplant und gebaut wird, dass er für die spätere Dükerung mitgenutzt werden kann? Wenn „nein“, warum nicht?


Die Fragen 11 bis 15 sind zusammenfassend wie folgt beantwortet: „Inspektion, Unterhaltung und Reinigung des Kanalnetzes einschließlich Sonderbauwerke – darunter zahlreiche Düker – werden von der Stadt Stuttgart nach den Regel der Technik bedarfsorientiert durchgeführt.“

Gefragt war indessen, wie die Dükerrohre gereinigt werden, in welchen Zeitabständen dies geschehen muss und welche zusätzlichen Kosten dadurch entstehen, wer diese dann tragen wird und wie sich die Abwasser-Gebühren für die Bürger Stuttgarts dadurch erhöhen werden. Gerne aber nochmals konkreter:

33.Wie wird eine Reinigung der unvermeidbaren Schlammablagerungen in den Dükerrohren nach den Regeln der Technik ausgeführt? (wir bitten um Angabe für jeden Düker)
34.Wie wird geprüft, ob Bedarf an einer Reinigung der unvermeidbaren Schlammablagerungen in den Dükerrohren besteht? (wir bitten um Angabe für jeden Düker)
35.Gibt es Anhalts- oder Erfahrungswerte, wie oft eine bedarfsorientierte Reinigung nach den Regeln der Technik durchzuführen ist?
36.Mit welchen Kosten rechnet die Verwaltung für die Reinigung der Dükers? (wir bitten um Angabe für jeden Düker)
37.Werden diese zusätzlichen entstehenden Kosten für Reinigung, Wartung und Unterhalt der Düker auf die Bürger_innen der Stadt Stuttgart umgelegt?
38.Hat das Tiefbauamt der Stadt Stuttgart seinerzeit Einspruch gegen die vorgesehenen Umverlegungen und Dükerungen der Abwassersammler für das Vorhaben "Stuttgart 21" wegen der Auswirkungen auf die Abwasser-Ableitung aus der Innenstadt erhoben? Falls „nein“, warum nicht? (Wiederholung der Frage 15)


Die Frage 16, ob denn auf die Zustimmung des Tiefbauamtes von höherer politischer Seite Einfluss genommen wurde, wurde wie folgt geantwortet: „Nein, es wurde kein Einfluss genommen.“

Damit wird ja ausgesagt, dass die aus abwassertechnischen Gründen gebotenen Einwände des Tiefbauamtes als maßgeblicher Fachbehörde gegen die Zerschneidung aller großen Abwassersammler der Innenstadt durch den geplanten Tiefbahnhof S-21 unterblieben sind. Die sich daraus ergebenden Nachteile und Verschlechterungen der Abwasser-Ableitung aus der Innenstadt nicht geltend gemacht zu haben, stellt unseres Erachtens eine grobe Pflichtverletzung des Tiefbauamtes dar, das dafür auch die alleinige Verantwortung zu tragen hat und diese nicht auf eine „politische Vorgabe“ abwälzen kann.

39.Teilt die Verwaltungsspitze unsere Einschätzung, dass die maßgebliche Fachbehörde Tiefbauamt hier eine grobe Pflichtverletzung begangen hat? Wenn „ja“, welche Konsequenzen gedenkt die Verwaltungsspitze zu ziehen? Wenn „nein“, wer hat nach Ansicht der Verwaltungsspitze „Schuld“ an der nun zur Ausführung kommenden Neuordnung der Abwasser-Bauwerke, die erhebliche Nachteile und eine deutliche Verschlechterung der Abwasser-Ableitung aus der Innenstadt bedeuten?


Angesichts der Wichtigkeit des Themas beantragen wir, dass der Sachverhalt neben der schriftlichen Beantwortung noch vor der Sommerpause im Ausschuss für Umwelt und Technik in öffentlicher Sitzung behandelt wird.


Gangolf Stocker Thomas Adler



Hannes Rockenbauch


zum Seitenanfang