Protokoll: Gemeinderat der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
TOP:
91
3
VerhandlungDrucksache:
574/2015
GZ:
OB 7831-10.00
Sitzungstermin: 02.07.2015
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: OB Kuhn
Berichterstattung:Herr Prof. Dr. Kirchberg (Rechtsanwälte Deubner & Kirchberg)
Protokollführung: Frau Sabbagh
Betreff: Bürgerbegehren "Ausstieg der Stadt Stuttgart aus S 21 aufgrund des Leistungsrückbaus durch das Projekt"
Entscheidung über Zulässigkeit

Vorgang:

Verwaltungsausschuss vom 01.07.2015, öffentlich, Nr. 198
Ergebnis: ohne Votum in GR verwiesen


Beratungsunterlage ist die Vorlage des Herrn Oberbürgermeisters vom 25.06.2015, GRDrs 574/2015, mit folgendem

Beschlussantrag:

1. Der Antrag auf Zulassung eines Bürgerentscheids "Ausstieg der Stadt Stuttgart aus S 21 aufgrund des Leistungsrückbaus durch das Projekt" wird zurückgewiesen. Das Bürgerbegehren wird für unzulässig erklärt.

2. Die Verwaltung wird beauftragt, den Vertrauenspersonen des Bürgerbegehrens die Feststellung der Unzulässigkeit des Antrags durch Bescheid bekannt zu geben.

Zunächst erläutert Herr Prof. Dr. Kirchberg sein Gutachten (nachfolgend im Wortlaut):


"Herr Oberbürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Initiatoren des Bürgerbegehrens, das unter der schlagwortartigen Bezeichnung Leistungsabbau oder Leistungsrückbau sogar läuft, haben abschließend angekündigt bzw. vorausgesagt, dass es in dieser Angelegenheit ja bald zu einer Klärung kommen wird, weil die Verwaltungsgerichte darüber entscheiden werden. Offenbar hat man ein Scheitern dieses Bürgerbegehrens, jedenfalls im Gemeinderat, vorausgesehen. Die Verwaltungsgerichte haben darüber bereits der Sache nach entschieden. Genauer gesagt, der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg. Denn die Berufung u. a. auf eine mangelnde Leistungsfähigkeit des neuen Hauptbahnhofs ist bereits vor etwa 2 Jahren zum Gegenstand eines Verfahrens gemacht worden, und zwar mit dem ausdrücklichen Begehren, wegen neuer Tatsachenerkenntnisse den Planfeststellungsbeschluss für S 21 von 2005 rückgängig zu machen. Der Verwaltungsgerichtshof hat diesen Antrag rechtskräftig abgelehnt. Und ich will in dem Zusammenhang auf zwei wesentliche Aspekte eingehen, die auch im Rahmen dieses Bürgerbegehrens eine Rolle spielen.

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat also in seinem vergleichsweise sehr aktuellen Urteil vom Juli 2014, und zwar bei der Prüfung, ob neue Tatsachen oder wissenschaftlich nachweisbare Erkenntnisse vorliegen, zur Frage der Leistungsfähigkeit zwei wesentliche Aspekte herausgestellt:

1. Eine Leistungsfähigkeit, umschrieben mit 32 Zügen pro Höchstbelastungsstunde, ist von vornherein Gegenstand der Planfeststellung gewesen, hat ihr also zugrunde gelegen, und ist auch vom Verwaltungsgerichtshof in den Verfahren, die unmittelbar gegen den Planfeststellungsbeschluss gerichtet wurden, wiederholt bestätigt worden.

2. Es gibt keine gesicherten, allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse dafür, dass diese Leistungsfähigkeit nicht erbracht werden kann. Es gibt, so sagt der Verwaltungsgerichtshof, die Einzelmeinung eines besonders engagierten Gegners und es gibt darüber hinaus ein anderes Gutachten. Die beweisen zwar, dass diese Frage nach wie vor umstritten ist, unterschiedlich bewertet wird, aber es gibt keine irgendwie gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu. Und die sind auch bis zum heutigen Tage im Rahmen der Begründung dieses Bürgerbegehrens nicht vorgelegt worden. Es ist also tatsächlich, um auch darauf einzugehen, nicht etwa so, dass der Verwaltungsgerichtshof in dem aktuellsten Entscheid vom April dieses Jahres gesagt hat, die Begründung eines Bürgerbegehrens ist eine vernachlässigbare Größe, darauf kommt es nicht an.

Der Verwaltungsgerichtshof hat gesagt, es ist sehr wohl ein Zulässigkeitskriterium, und die Initiatoren müssen daran auch gemessen werden. Aber es dürfen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Welche Anforderungen sind nun zu stellen an ein Bürgerbegehren, das sich wiederum auf einen Wegfall der Geschäftsgrundlage beruft? Der Verwaltungsgerichtshof sagt, es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür genannt werden oder konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass hier tatsächlich ausnahmsweise der Kündigungstatbestand des § 60 Verwaltungsverfahrensgesetz, also Wegfall der Geschäftsgrundlage, vorliegt.

Solche konkreten Anhaltspunkte, also Erkenntnisse auf allgemein gesicherter Basis sind in der Begründung dieses Bürgerbegehrens nicht vorgetragen worden. Und alle sonstigen Stellungnahmen, Gutachten, Berechnungen, Stresstests laufen in eine andere Richtung. Deshalb kann auch dieses Bürgerbegehrens meines Erachtens nicht als zulässig angesehen werden, sondern muss - erlauben Sie, wenn ich das so sage - als besonders unzulässig angesehen werden."

Inhaltlich schließt sich StR Kotz (CDU) im Namen seiner Fraktion den Ausführungen von Herrn Prof. Dr. Kirchberg und der Verwaltungsvorlage an. In Bezug auf die grundsätzlichen Äußerungen verweist er auf seinen Wortbeitrag zum vorhergehenden TOP 2 (siehe NNr. 90).

StR Stopper (90/GRÜNE) bezieht sich zunächst auf die Ausführungen von StR Rockenbauch zu TOP 2 und erklärt, vieles von dem, was dieser gesagt habe, teile seine Fraktion. Als Gegner von S 21 habe sie jahrelang die gleichen Argumente vorgebracht. Doch in den Jahren, als ein Stopp des Projekts unter Umständen noch möglich gewesen wäre, sei man politisch und juristisch damit gescheitert. In diesem Zusammenhang merkt er gegenüber StR Prof. Dr. Maier an, die Volksabstimmung sei in diesem Fall die einzige Möglichkeit gewesen, die die Landesverfassung biete. Verantwortliche Politik müsse das Projekt nun kritisch begleiten und akzeptieren, dass auf Grundlage der miserablen Verträge ein Ausstieg nicht möglich sei.

Seine Fraktion sehe als Folge des Projekts einen bahnverkehrlichen Engpass. Der neue Bahnhof sei störanfällig, nicht ausbaufähig und bringe Nachteile für den S-Bahn-Verkehr, wie auch das SMA-Gutachten beim Stresstest aufgezeigt habe. Die Bahn weigere sich, einen transparenten Vergleich der Leistungsfähigkeit von S 21 und einem ertüchtigten Kopfbahnhof vorzulegen, und sie sei dazu auch nicht verpflichtet. Bezüglich der Leistungsfähigkeit des Filderbahnhofs sei die Bahn AG von der Universität Dresden widerlegt worden. Bauzeit und Baulogistik verzögerten sich, beim Lärmschutz habe sich die Bahn verrechnet und erneut viel Vertrauen verspielt.

Aufgrund der über die Jahre konstanten Kritikpunkte sähen sich zwei Mitglieder seiner Fraktion nicht in der Lage, gegen das Bürgerbegehren und damit für die Verwaltungsvorlage zu stimmen. Was die rechtliche Zulässigkeit anbelange, so teile seine Fraktion die Auffassung des Gutachters, der sich an Gerichtsurteilen orientiere, und werde der Verwaltungsvorlage mehrheitlich zustimmen.

Seine Fraktion folge dem Gutachter nicht in allen Punkten. Sie teile nicht die Auffassung, dass das Bürgerbegehren nicht konkret genug begründet sei. Hier würden zu hohe Anforderungen an eine Unterschriftenliste für ein Bürgerbegehren gestellt. Zudem habe der Gutachter Gutachten und Stellungnahmen der Bahn AG sowie ein Urteil des VGH zitiert, die zum Zeitpunkt der Initiierung noch nicht vorgelegen hätten.

Das eigentliche rechtliche Problem des Bürgerbegehrens liege in der miserablen Vertragslage, die man nicht über das Bürgerbegehren angreifen könne, wie auch das Urteil des VGH bestätige. Die Befürworter hätten den Verträgen zugestimmt und deshalb seien sie gültig.

Alle Themen seien ausführlichst vor der Volksabstimmung diskutiert worden und würden jetzt unverändert wieder diskutiert. Wenige Monate nach der Volksabstimmung lägen keine neuen Erkenntnisse vor, die ein neuerliches Abstimmen rechtfertigen würden. Insofern sehe er das Bürgerbegehren schlicht als Versuch an, die Volksabstimmung zu wiederholen, weil man mit dem damaligen Ergebnis nicht zufrieden sei. Das halte seine Fraktion weder für ehrlich noch für besonders demokratisch.

Im Namen seiner Fraktion stimmt StR Körner (SPD) der Vorlage zu. Er begrüßt insbesondere, dass sich OB Kuhn so klar den Ausführungen des Gutachters anschließe und dabei auch die großen städtebaulichen und verkehrlichen Vorteile des Projekts herausstreiche. Auch seine Fraktion sehe große Chancen für den Bahnknoten Stuttgart. Aktuell habe man große Probleme im S-Bahn-Verkehr, weil dieses System völlig überlastet sei. Die Durchmesserlinie der Regionalbahnen, die neue S-Bahn-Station Mittnachtstraße und die Trennung des Mischverkehrs zwischen Bad Cannstatt und Hauptbahnhof würden die S-Bahn entlasten. Weitere Vorteile brächten auch die statt der bisherigen fünf künftig acht Zu- und Abfahrten sowie die drei neuen Bahnhöfe - S-Bahnhof Mittnachtstraße, Hauptbahnhof und Filderbahnhof - mit sich.

StR Rockenbauch (SÖS-LINKE-PluS) spricht auch zu diesem Tagesordnungspunkt vom Rednerpult aus. Sein Wunsch, eine Präsentation zu verwenden, wird vom Gemeinderat mehrheitlich abgelehnt (siehe NNr. 92). Er bietet den Mitgliedern des Gemeinderats an, ihnen die Präsentation zuzusenden, die zum Beispiel Originaldokumente der Ministerien und der Bahn AG zeige, mit denen er seine Argumentation hätte unterlegen wollen.

Seine Fraktionsgemeinschaft halte die Begründung des Bürgerbegehrens für ausreichend und nehme mit Freude zur Kenntnis, dass dies auch die Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN so sehe.

Nach Ansicht seiner Fraktionsgemeinschaft handle es sich sehr wohl um einen Leistungsrückbau. Und das Leistungsversprechen 50 % plus in Anlage 3.2 a sei Bestandteil der Finanzierungsvereinbarung. Er begründet im Weiteren sehr ausführlich das Bürgerbegehren, das der GRDrs 574/2015 als Anlage 1 beigefügt ist. Grundsätzlich sei für die Bemessung der Infrastruktur die Spitzenstunde maßgeblich. Das vom Gutachter erwähnte Urteil des VGH von 2006 enthalte die Aussage, dass der Tiefbahnhof mit 32 Zügen planfestgestellt worden sei. Nach der Untersuchung des Gutachters Prof. Dr.-Ing. Schwanhäußer sei der Tiefbahnhof für 32 - 35 Züge ausreichend dimensioniert. Das Gutachten von Prof. Dr.-Ing. Martin basiere auf völlig unrealistischen Haltezeiten von z. B. einer Minute bei einem Regionalzug. Auch beim Stresstest würden die Haltezeiten entgegen den von der Landesregierung vorgegebenen Regeln unterschritten. In den Diskussionen nach dem Stresstest habe das MVI noch erheblichen Klärungsbedarf signalisiert und Nachbesserungen gefordert. In den von der Bahn AG 2012 und 2013 nachgelieferten Informationen seien weitere Fehler der Bahn AG enthalten, die damit ihre Aussagen über den Stresstest selbst entkräfte.



Nachdem sie von Wikireal am 27.05.2013 mit ihren Eingeständnissen konfrontiert worden sei, habe die Bahn am 30.09.2013 einseitig die Diskussion abgebrochen.

Das Papier von 2013 des MVI erwähne an keiner Stelle, dass es lediglich auf die 30 getakteten Züge ankomme. Ein methodischer Vergleich, eine belastbare Gegenüberstellung der Leistungsfähigkeit des bestehenden und gegebenenfalls eines ertüchtigten Kopfbahnhofs mit der Planung für Stuttgart 21 läge nicht vor. Bislang weigere sich die Bahn AG, eine solche Untersuchung zu ermöglichen.

Nach siebzehn Minuten unterbricht OB Kuhn und weist auf § 22 der Gemeindeordnung hin, wonach Reden im Gemeinderat in der Regel nicht länger als drei Minuten, bei Schwerpunktthemen zehn Minuten dauern sollten. Er bittet den Stadtrat, zum Schluss zu kommen.

StR Rockenbauch unterstreicht nochmals, dass den 100 Seiten der Bahn AG, die jegliche Kritik des Leistungsrückbaus entkräften sollten, in weiteren 213 Konkretisierungs- und Nachfrageanträgen widersprochen worden sei. Diese Fragen seien bislang nicht beantwortet. Die am 24.07.2012 von den Gutachtern der Bahn AG präsentierte Personenstromanalyse zeige, dass die Bahn AG an ihren eigenen Ansprüchen, eine Entfluchtung des Bahnhofs und einen leistungsfähigen Verkehr zu betreiben, scheitere.

Ergänzend weist er darauf hin, dass das Gutachten der Bahn AG zum Brandschutz im Gegensatz zum Stresstest nicht von Doppelbelegungen der Bahnsteige ausgehe, sondern von einzelnen Zügen mit der entsprechenden Personenzahl.

Im Namen ihrer Fraktion schließt sich StRin von Stein (FW) der Empfehlung der Verwaltung und des Gutachters an, das Bürgerbegehren für unzulässig zu erklären.

Weder aus juristischer noch aus politisch-stilistischer Sicht halte seine Fraktion, so StR Prof. Dr. Maier (AfD), das Bürgerbegehren für unzulässig. Weil jedoch die Frage der Kapazitätsberechnung mit solchen Intransparenzen behaftet sei, dass sie eine Entscheidung auf gesicherter Grundlage kaum gestatte, werde sich seine Fraktion bei der Abstimmung enthalten.

Zustimmung zur Vorlage erklärt StR Dr. Oechsner (FDP) im Namen seiner Gruppierung. Er hielte es - auch aus finanziellen Gründen - für vollkommen irrational, wenn das Projekt nicht zu Ende gebaut würde.

StR Dr. Schertlen (STd) lehnt die Vorlage ab und bittet, im Ältestenrat die Verwendung von Präsentationen in den Sitzungen der Vollversammlung einmal grundsätzlich zu klären.

Anschließend geht OB Kuhn nochmals auf die Argumentation von StR Rockenbauch ein. Es gelte, zwischen der Anzahl von Taktzügen und Zügen in der Spitzenstunde zu unterscheiden. Seiner Ansicht nach beziehe sich die Finanzierungsvereinbarung von 2009 mit einem Leistungszuwachs von 50 % auf die Taktzüge. In der Schlichtung habe man dann - mit Billigung u. a. von StR Rockenbauch - den Stresstest in Auftrag gegeben.

Dieser sollte in einer Simulation nachweisen, dass bei S 21 ein Fahrplan mit 30 % Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich sei. Der Stresstest habe ergeben, dass sowohl bei den Taktzügen als auch bei den Belegungen in der Spitzenstunde der Bahnhof S 21 mehr Züge bewältige. Von einem Rückbau könne deshalb keine Rede sein, es sei denn man beziehe sich nicht auf den aktuellen Kopfbahnhof, sondern, wie StR Rockenbauch dies tue, auf einen umgebauten.

Er stellt grundsätzlich klar, dass er sich als Oberbürgermeister per Amtseid verpflichtet habe, sich an Recht und Gesetz zu halten. Er bemühe sich um Problemlösungen, was z. B. die Kapazitäten am Filderbahnhof betreffend auch gelungen sei. Und er habe, im Unterschied zu StR Rockenbauch, bereits im Wahlkampf erklärt, er könne nicht zusagen, S 21 zu stoppen, weil er sich an die Verträge und die Volksabstimmung zu halten habe.

StR Rockenbauch betont, bahnwissenschaftlich sei zur Leistungsbemessung eines Bahnhofs allein die Spitzenstunde ausschlaggebend. Das sei auch logisch, da sie die Kapazität vorgebe, und deshalb habe man auch im Stresstest die Spitzenstunde zugrunde gelegt. Gegenüber OB Kuhn stellt er klar, dass er dem Schlichterspruch seinerzeit nicht zugestimmt habe. Das MVI habe 2011 dargelegt, dass der bestehende Bahnhof 50 Züge bewältige und auch ohne objektiven Vergleich eine Aussage möglich sei. So habe der Kopfbahnhof gegenüber dem unterirdischen Bahnhof klare Vorteile, u. a. hinsichtlich der betrieblichen Flexibilität im Störungsfall, Fragen der Infrastruktur und nachträglicher Erweiterbarkeit und Kapazitätssteigerung. Er verlange von OB Kuhn nicht, die Verträge einfach zu kündigen, sondern sie kritisch zu prüfen. Stattdessen zitierten sowohl er als auch Prof. Dr. Kirchberg unkritisch die Meinung der Bahn AG.

Schließlich lässt OB Kuhn abstimmen und stellt fest:
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