Landeshauptstadt Stuttgart
Referat Allgemeine Verwaltung/Kultur und Recht
Gz: AKR
GRDrs 246/2021
Stuttgart,
04/12/2021



Vergabe des Hegel-Preises 2021



Beschlußvorlage
Vorlage an
    zur
SitzungsartSitzungstermin
Verwaltungsausschuss
Gemeinderat
Ausschuss für Kultur und Medien
Beratung
Beschlussfassung
Kenntnisnahme
öffentlich
öffentlich
öffentlich
21.04.2021
22.04.2021
13.07.2021



Beschlußantrag:

Die Landeshauptstadt Stuttgart verleiht den mit 12.000 Euro dotierten Hegel-Preis 2021 an Prof. em. Beatrice Longuenesse.



Kurzfassung der Begründung:
Ausführliche Begründung siehe Anlage 1

Nach den Bestimmungen des Hegel-Preises (GRDrs 384/2009) wird dieser alle drei Jahre verliehen. Die letzte Preisverleihung erfolgte 2018.

Die Fachjury schlägt aufgrund ihrer Beratungen die oben Benannte als Preisträgerin für 2021 vor. Die Verwaltung legt die Entscheidung der Jury dem Gemeinderat zur Bestätigung vor.


Finanzielle Auswirkungen

Der Aufwand wird im Teilergebnishaushalt 2021 THH 410 - Kulturamt, Kontengruppe
420 - Aufwendungen für Sach- und Dienstleistungen -, gedeckt.




Beteiligte Stellen

keine

Vorliegende Anträge/Anfragen

keine

Erledigte Anträge/Anfragen

keine



Dr. Fabian Mayer
Erster Bürgermeister


Anlagen

Anlage 1: Ausführliche Begründung




Ausführliche Begründung



Der Gemeinderat der Landeshauptstadt Stuttgart hat am 8. Juni 1967 in Würdigung der Bedeutung ihres großen Sohnes Georg Wilhelm Friedrich Hegel den Hegel-Preis gestiftet. Der Hegel-Preis der Landeshauptstadt Stuttgart wird alle drei Jahre an Persönlichkeiten verliehen, die sich um die Entwicklung der Geisteswissenschaften im weiten Sinne verdient machen oder gemacht haben. Er gilt international als eine der wichtigsten philosophischen Auszeichnungen. Er wurde erstmals 1970 anlässlich Hegels 200. Geburtstag an den Altphilologen Prof. Dr. Bruno Snell vergeben. Die weiteren bisherigen Preisträger waren:

1973 Prof. Dr. phil. Jürgen Habermas
1976 Prof. Dr. Sir Ernst Gombrich
1979 Prof. Dr. Hans-Georg Gadamer
1982 Prof. Dr. Roman Jacobson
1985 Prof. Dr. Paul Ricoeur
1988 Prof. Dr. sc. Niklas Luhmann
1991 Prof. Donald Davidson
1994 Prof. Dr. Jaques Le Goff
1997 Prof. Dr. Charles Taylor
2000 Prof. Dr. Norberto Bobbio
2003 Prof. Dr. Dieter Henrich
2006 Prof. Dr. Richard Sennett
2009 Prof. Dr. Michael Tomasello
2012 Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff
2015 Prof. Dr. Michael Theunissen
2018 Prof. Dr. Michael Stolleis

Die Jury zur Vergabe des Hegel-Preises hat in ihrer entscheidenden Sitzung am 5. März 2021 die im Beschlussantrag genannte Persönlichkeit als Preisträgerin 2021 vorgeschlagen.

Der Jury gehören 4 Fachjuror*innen an. Diese sind derzeit: Herr Martin Bauer, Hamburger Institut für Sozialforschung, Frau Prof. Dr. Dina Emundts, Präsidentin der Internationalen Hegel-Vereinigung, Herr Prof. Dr. Dres.h.c. Ulfrid Neumann, Goethe-Universität Frankfurt am Main und Herr Prof. Dr. Reinhard Steiner, Institut für Kunstgeschichte Stuttgart.

Der Jury gehören außerdem Vertreter*innen des Stuttgarter Gemeinderates an, zurzeit Frau Dr. Christine Lehmann, Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Herr Jürgen Sauer, CDU, Frau Laura Halding-Hoppenheit, Die FrAKTION und Frau Susanne Kletzin, SPD. Stimmberechtigt sind ferner der/die Leiter*in des Kulturamts, derzeit Herr Marc Gegenfurtner. Vorsitzender oder Vorsitzende der Jury ist der Oberbürgermeister oder die Oberbürgermeisterin oder in seiner/ihrer Stellvertretung der/die für den Kulturbereich zuständige Beigeordnete, zurzeit Herr EBM Dr. Fabian Mayer.


1. Zur Vita der Preisträgerin 2021

Béatrice Longuenesse wurde am 6. September 1950 in Dieulefit (Drôme, Frankreich) geboren. Sie studierte Philosophie an der École normale supérieure in Paris, an der Universität Paris-Sorbonne und als Gaststudentin mit dem Jane-Eliza-Procter-Stipendium an der Princeton University. 1981 schloss sie ihre Promotion und 1992 ihre Habilitation an der Universität Paris-Sorbonne ab.

Longuenesse war Dozentin an der Universität Paris-Sorbonne (1978 - 1979) und der
École normale supérieure (1981-83), „Assistant Professor“ an der Universität der
Franche-Comté (1983 - 1985), „Associate Professor“ an der Universität Clermont-Ferrand (1985 - 1993). Außerdem war sie außerordentliche Gast-Professorin (1993 - 1994), außerordentliche Professorin (1994 - 1996) und ordentliche Professorin für Philosophie (1996 - 2004) an der Princeton University. In den Jahren 2004 bis 2020 war Longuenesse Professorin für Philosophie an der New York University. Heute ist sie emeritierte Lehrstuhlinhaberin für Philosophie auf der renommierten Silver Stiftungsprofessur an der New York University.

Longuenesse' jüngste Arbeit umfasst – über die Geschichte der modernen Philosophie hinausgehend – die zeitgenössische Philosophie des Geistes und der Sprache unter Einbeziehung der Psychologie, Psychoanalyse und Neurowissenschaft. Im Fokus ihrer Forschung stehen verschiedene Arten des Selbstbewusstseins und deren Zusammenhang mit dem Gebrauch des Pronomens der ersten Person Singular in Sprache und Denken. Sie greift auf die Ressourcen der sowohl analytischen als auch kontinentalen Tradition der Philosophie zurück, um eigene Beiträge zu zeitgenössischen Debatten über das Selbstbewusstsein zu liefern. Ihre Arbeiten auf diesem Gebiet erschienen in interdisziplinären Organen zusammen mit Beiträgen von Sprachwissenschaftler*innen, Sprachphilosoph*innen und Neurowissenschaftler*innen.


Auszeichnungen und Preise (Auswahl)


Publikationen (Auswahl)

(1981) Hegel et la Critique de la métaphysique. Paris: Librairie Philosophique J. Vrin. Zweite, erweiterte Auflage 2015

(1991) Hegel: Notes et fragments. Iéna 1803-1806, traduction et commentaire (ouvrage collectif). Paris: Aubier

(1993) Kant et le pouvoir de juger. Sensibilité et discursivité dans l'Analytique Transcendantale de la Critique de la Raison Pure. Paris: Presses Universitaires de France


(1998) Kant and the Capacity to Judge. Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason. Princeton: Princeton University Press. Taschenbuch-Ausgabe 2000. (umfassend überarbeitete und erweiterte englische Fassung von (1993))

(2000) Übersetzung in Portugiesisch (Brasilien). João Geraldo Martins da Cunha e Luciano Codato: Kant e o poder de julgar. Editora Unicamp

(2005) Kant on the Human Standpoint. Cambridge: Cambridge University Press

(2007) Hegel’s Critique of Metaphysics (erweiterte englische Fassung von (1981), inkl. zweier zusätzlicher Kapitel und einem neuen Vorwort). Cambridge: Cambridge University Press

(2017, Taschenbuch-Ausgabe 2019) I, Me, Mine. Back to Kant, and Back Again. Oxford: Oxford University Press

(2019) The First Person in Cognition and Morality. Oxford: Oxford University Press


Sammelbände

(2008) (mit Dan Garber) Kant and the Early Moderns. Princeton: Princeton University Press.

(2010) Le Moi/The Self/Le Soi. Sonderausgabe der Revue de Métaphysique et de Morale.



2. Die Begründung der Jury

Béatrice Longuenesse ist emeritierte Professorin für Philosophie auf der renommierten Silver Stiftungsprofessur an der New York University. Sie gehört zu den international anerkanntesten Philosophinnen unserer Zeit. In ihren Arbeiten ist es ihr gelungen, ganz unterschiedliche Traditionen, Fragestellungen und kulturelle Impulse in einzigartiger Weise aufzugreifen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Die mittlerweile zu Standardwerken avancierten Studien über Kant und Hegel bezeugen, dass Béatrice Longuenesse herausragende philosophiehistorische Forschung betreibt. Zugleich kann sie beeindruckend erkennbar machen, dass Fragen zur Geschichte der Philosophie ihre Aktualität nicht eingebüßt haben.

Longuenesse zeichnet sich dadurch aus, dass sie sehr verschiedene Fragen und Traditionen in sehr fruchtbarer Weise zusammenbringt: Sie ist fraglos eine der einflussreichsten und besten Forscher*innen für die Geschichte der Philosophie. Ihre Bücher zu Kant und Hegel sowie ihre Bücher zu Themen des Selbstbezugs gehören zu den weltweit meist zitierten und einflussreichsten Büchern der akademischen Welt überhaupt. Sie gelten im Feld als kanonisch. Qualität wie Originalität ihrer Interpretationen sind ebenso unbestritten wie maßgebend.

Longuenesse hat aber nicht nur bedeutende Arbeiten zur Geschichte der Philosophie geschrieben. Sie hat auch, instruiert durch die Philosophiegeschichte, zur zeitgenössischen


Philosophie gearbeitet, insbesondere zur Philosophie des Geistes. Ausgehend von den bei Kant und Hegel mit aller Radikalität gestellten Fragen zum Selbstverhältnis und Person-Sein und nicht zuletzt zu den in diesen Selbstverhältnissen fundierten Vorstellungen von menschlicher Freiheit haben ihre Beiträge in äußerst fruchtbarer Weise auf andere Traditionen ausgegriffen. Insbesondere hat sie in sehr origineller Weise Verbindungen zu Sigmund Freud, zu Positionen in der Phänomenologie, zu zeitgenössischen Positionen der Philosophie des Geistes und zu Neurowissenschaftler*innen hergestellt. Thematisch geht Longuenesse dabei ebenso um die Frage, welche Selbstbezüge wir Menschen ausbilden können, wie um die, was für eine Rolle diese für unser Erkenntnis der Welt und für unser moralisches Handeln in dieser spielen.

Bemerkenswert ist, wie Béatrice Longuenesse in ihren Untersuchungen und mit ihren Fragen den Bereich enger akademischer Wissenschaft auch immer wieder transzendiert und die Grenzen innerakademischer Fachdiskussionen verlässt. So sind vielbeachtete und gewichtige Beiträge zu aktuellen philosophischen Fragen entstanden, die auch in der breiteren Öffentlichkeit diskutiert werden.

Die Aktualisierung von Potentialen durchaus heterogener Traditionen führt Béatrice Longuesse besonders eindrücklich in Büchern wie I, Me, Mine. Back to Kant, and Back Again (2017) und The First Person in Cognition and Morality (2019) vor Augen. Einen nahezu kanonischen Status in der internationalen Kant- und Hegelforschung genießen ihre Studien Kant and the Capacity to Judge. Sensibility and Discursivity in the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason (2000) und Hegel's Critique of Metaphysics (2007).

Béatrice Longuenesse ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und war Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg.

In diesem integrativen Werk, das wie kaum ein zweites verschiedene Fragen und Traditionen zusammenbringt und weiterführt, ohne es je an philosophiehistorischer Umsichtigkeit fehlen zu lassen, sieht die Jury eine Leistung, die es aufgrund ihrer außerordentlichen Eigenständigkeit und Güte verdient, mit dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart ausgezeichnet zu werden.
Prof. Dr. Dina Emundts




zum Seitenanfang