Protokoll: Gemeinderat der Landeshauptstadt StuttgartNiederschrift Nr.
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VerhandlungDrucksache:
4/2010
GZ:
WFB
Sitzungstermin: 21.01.2010
Sitzungsart: öffentlich
Vorsitz: OB Dr. Schuster
Berichterstattung:EBM Föll
Protokollführung: Frau Huber-Erdtmann sp
Betreff: Neuorganisation SGB II
- Resolution des Gemeinderats

Vorgang:

Ausschuss für Wirtschaft und Wohnen vom 15.01.2010, nicht öffentlich, Nr. 1
Ergebnis: einmütige Zustimmung


Beratungsunterlage ist die Vorlage des Referats Wirtschaft, Finanzen und Beteiligungen vom 11.01.2010, GRDrs 4/2010, mit folgendem

Beschlussantrag:

Der Gemeinderat richtet an die Fraktionen des Deutschen Bundestages, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Landesregierung von Baden-Württemberg die als Anlage 1 beiliegende Resolution zur Neuorganisation der Aufgabenwahrnehmung im SGB II.


StRin Seitz (90/GRÜNE) nimmt wegen Befangenheit im Sinne von § 18 GemO an der Beratung und Abstimmung dieses Tagesordnungspunktes nicht teil.


EBM Föll berichtet, dass die von der Gemeinderatsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN angeregte Resolution im Ausschuss für Wirtschaft und Wohnen einmütig vorberaten wurde. In diesem Zusammenhang sei auch der Ergänzungsantrag der SPD für erledigt erklärt worden. Die Resolution selbst beziehe sich nicht auf das SGB II insgesamt, sondern ausschließlich auf die organisatorische Frage der Trägerschaft der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Er sei dankbar, dass der Ausschuss einmütig dem Vorschlag zugestimmt hat, den Gesetzgeber in Berlin, der ja in diesen Wochen über diese Frage befinden werde, aufzufordern, die Option für die Übernahme der Trägerschaft durch die Kommunen zu erweitern, indem die gegenwärtig im Gesetz verankerte zahlenmäßige Begrenzung entfällt.

Hierfür gebe es vielerlei Gründe, vor allem denjenigen, den Kerngedanken der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zu erhalten, nämlich Hilfe und Unterstützung der Betroffenen aus einer Hand, um die Menschen nicht zu unterschiedlichen Institutionen zu schicken. Für die Übernahme der Trägerschaft spreche aber auch, dass die Kommune dann Einfluss auf die Arbeitsmarktprogramme und die Integrationsmaßnahmen nehmen kann. Das wäre bei einer getrennten Aufgabenträgerschaft nicht mehr der Fall.

Er wolle aber auch ausdrücklich unterstreichen, dass sich die Zusammenarbeit in der Arbeitsgemeinschaft mit der örtlichen Agentur für Arbeit konstruktiv und gut entwickelt hat. Mancher Diskussionsbeitrag in den vergangenen Tagen - allerdings nicht im Gemeinderat, sondern republikweit - habe über die Arbeitsweise der JobCenter ein falsches Bild vermittelt, zumindest im Blick auf das JobCenter Stuttgart. Dort habe man außerordentlich engagierte und kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diese schwierige Aufgabe erfolgreich wahrnehmen. Das gelte sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt Stuttgart als auch für diejenigen der Agentur für Arbeit.

Der Erfolg zeige sich auch daran, dass die Fehlerquote im JobCenter Stuttgart außerordentlich niedrig ist. Er wolle das an einigen Zahlen belegen: In Stuttgart gebe es pro Jahr rund 154.000 Leistungsbescheide, gegen die 2.200 Widersprüche erhoben wurden. Das seien rund 1,4 %. Von diesen 2.200 Widersprüchen seien im Jahr 2009 484, also einem runden Fünftel, stattgegeben worden. Das entspreche einer Fehlerquote in der Leistungsbearbeitung von 0,3 %. Angesichts der schwierigen Rechtsmaterie, vom Gesetz bis zu den Ausführungsbestimmungen, sei diese Fehlerquote wirklich gering. Dafür müsse man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern großen Respekt zollen - bei aller Kritik der Betroffenen oder unterschiedlicher politischer Meinungen zum Thema SGB II oder Hartz IV, die nicht den Blick verstellen sollten, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr gute Leistungen erbringen. Das gelte auch für die Integrationsmaßnahmen.

Er gehe davon aus, dass die Stadt Stuttgart im Gesetzgebungsverfahren eine reelle Chance hat, das in der Resolution formulierte Ziel tatsächlich zu erreichen. Das JobCenter Stuttgart sei gerüstet, eine solche Trägerschaft ab 2011 zu übernehmen. Er hoffe sehr, dass mit der Organisationsfrage auch die Rechtsgrundlage für die Eingliederungsinstrumente nochmals reformiert wird, damit die Stadt mehr Freiheit bekommt, Eingliederungsmaßnahmen und Projekte an den konkreten Bedürfnissen der Betroffenen, aber auch an der lokalen Arbeitsmarktsituation zu orientieren. Es sei gegenwärtig ein Problem, dass diese Rechtsfragen noch nicht abschließend klar definiert sind.

Er bitte die Mitglieder des Gemeinderats, dieser Resolution zuzustimmen und in ihren Parteien und Gremien dafür zu werben, dass das, was mit dieser Resolution gefordert wird, dann auch tatsächlich in wenigen Monaten Realität im Bundesgesetzblatt wird.

StR Wölfle (90/GRÜNE) weist darauf hin, dass es ein gemeinsamer Antrag der Grünen, der SPD und der Fraktionsgemeinschaft SÖS und LINKE gewesen sei, die zu dem Resolutionsentwurf geführt habe. Das Zusammenwirken von Kommune und Agentur für Arbeit sei eines der gelungenen Beispiele der früheren rot-grünen Bundesregierung, Arbeitsmarktreform und Hilfe für Arbeitsuchende aus einer Hand zu organisieren. Bedauerlicherweise habe es die große Koalition nicht geschafft, diese Konstruktion rechtzeitig rechtssicher zu machen.

In der Resolution stehe richtigerweise, dass das JobCenter Stuttgart unter kommunaler Federführung seine Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ARGE und vor allen auch ihre Leitung hätten zu diesem Erfolg beigetragen, weil im Interesse der Ratsuchenden nicht alles nur buchstabengetreu ausgelegt wurde. Die Kritiker der JobCenter sollte man einmal nach Stuttgart einladen, damit sie wissen, wovon sie reden.

Den Wunsch, der Stadt Stuttgart im Interesse der Ratsuchenden die Möglichkeit der Option einzuräumen, sollte man gemeinsam so laut wie möglich nach Berlin tragen. Da von der neuen Ministerin, Frau von der Leyen, gesagt werde, sie sei intelligent und mutig, müsse man ja nicht völlig schwarz sehen.

StR Hill (CDU) schließt sich für seine Fraktion dem Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des JobCenters an. Wer schon länger Mitglied des Gemeinderats ist, wisse, mit welchen Geburtswehen und mit welchen Belastungen vor Ort die Dinge damals auf den Weg gebracht worden sind. Nach den positiven Erfahrungen, die man mit der alten Struktur der Arbeitshilfeträger gemacht habe, sei es wichtig gewesen, diese zu erhalten. Die Arbeit des JobCenters sei hervorragend. Die von EBM Föll genannten Zahlen würden das belegen.

Da man auch künftig die gleiche Effizienz wie bisher erreichen möchte, wolle man die Optionsmöglichkeit erhalten und diese Aufgabe weiterhin in kommunaler Regie wahrnehmen. Er sei überrascht gewesen, dass die Ministerialbürokratie alte Ideen weiterverfolgen will, und hoffe, dass die Ministerin erkennt, dass man ihr hier ein "Kuckucksei ins Nest gelegt hat". Das sei alte Politik, wie sie die Sozialdemokratie vertreten habe, nämlich starre Strukturen, die der Staat von oben herunter vorgeben soll. Seine Fraktion wolle das nicht. Er sei guter Dinge, dass man mit der Resolution Erfolg haben werde und die Optionsmöglichkeit erhält, denn er glaube, dass die Forderungen bereits in den Diskussionen angekommen sind. Die Stadt Stuttgart werde diese Aufgabe genauso gut - wenn nicht sogar besser - bewerkstelligen können. Seine Fraktion stimme der Resolution deshalb mit Freude zu.

StRin Dr. Blind (SPD) begrüßt die Resolution ebenfalls. Es sei eine der großen Errungenschaften der rot-grünen Koalition gewesen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen und damit Hilfe aus einer Hand für die betroffenen Menschen zu gewährleisten. Es könne nicht sein, dass diese bewährte Struktur jetzt wieder zerschlagen wird. Ihre Fraktion lehne die getrennte Aufgabenwahrnehmung ab. In der großen Koalition habe es eine Lösung gegeben, die bereits mit den Ländern ausgehandelt war, aber von der CDU gekippt wurde. Jetzt gehe es darum, die JobCenter mit der Optionsmöglichkeit zu retten. Im Übrigen hoffe sie, dass wahrgenommen wird, dass sie nicht bereit ist, auf alle Anwürfe, die in diesem Hause gemacht werden, zu antworten.

Für ihre Fraktion signalisiert StRin von Stein (FDP) die Unterstützung der Resolution. Im Vordergrund sollten die betroffenen Menschen und eine optimale und rasche Hilfeleistung stehen und natürlich auch eine effiziente Aufgabenerledigung seitens der Stadt. Das bisherige Modell, wie es in Stuttgart eingeführt und eingeübt ist, habe Erfolge gezeigt. Es sollte daher weitergeführt werden.

Auch wenn die Freien Wähler in Berlin keinen direkten Ansprechpartner hätten, so StR Zaiß (FW), stimme seine Fraktion der Resolution sehr gerne zu, verbunden mit dem Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des JobCenters, denn man wisse, was sie hier in Stuttgart geleistet haben.

StRin Küstler (SÖS und LINKE) konstatiert, dass in ihrer Fraktionsgemeinschaft wenig Freude vorhanden sei, denn es gebe nicht nur gelungene Beispiele für die Arbeit des JobCenters. Zunächst müsse sie festhalten, dass ihre Fraktionsgemeinschaft nach wie vor gegen Hartz IV ist, weil sie der Meinung sei, dass die Menschen durch diese Form der Betreuung in eine unwürdige Lage gebracht werden. Die Hilfe sei oft mangelhaft, nütze in vielen Fällen gar nichts, und die Altersarmut sei vorprogrammiert.

Nun habe das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Rechtskonstruktion, in der gegenwärtig die Betreuung stattfindet, unzulässig ist. Für ihre Fraktionsgemeinschaft stelle sich die Frage, wie sie sich dazu verhalten will. Immerhin befasse sich das Verfassungsgericht mit Ungerechtigkeiten, nämlich der Frage der Regelsätze für Kinder. Es müsste aber eigentlich auch eine Lösung gefunden werden, die den Zustand für die Betroffenen von Hartz IV verbessert.

Bis auf den letzten Satz sei ihre Fraktionsgemeinschaft über den Resolutionstext alles andere als glücklich. Die Umsetzung des gemeinsamen Antrages der drei Fraktionen habe bewirkt, dass die "Lobhudelei" für die Arbeit der JobCenter verstärkt wurde. Sie wolle ausdrücklich sagen, dass sie sich damit nicht gegen die Beschäftigten wende, denn wie gut die Gesetze und Maßnahmen oder ihr Spielraum sind, liege nicht an ihnen. Sie würden sowohl unter der Arbeitssituation leiden als auch unter den Maßnahmen, die sie durchführen müssen. Insoweit könne sie sich dem Dank an die Beschäftigten anschließen.

Angesichts der Sachlage sehe sie es als die einzige Lösung für Stuttgart an, zu versuchen, eine Optionskommune zu werden, weil dann die Art und Weise, wie die Arbeit betrieben wird, von der Kommune zumindest beeinflusst werden könne. Ihre Fraktionsgemeinschaft sei für dezentrale Verwaltungen, um den demokratischen Einfluss zu stärken. Deswegen werde sie mehrheitlich der Resolution zustimmen.

StR Dr. Schlierer (REP) merkt an, dass die Einrichtung einer Mischverwaltung von Bund und Kommunen nicht nur neu gewesen, sondern auch mit gewissen Risiken verbunden war. Rückblickend könne man sagen, dass sich das Modell der gemeinsamen Verantwortung und kooperativen Erledigung der beiden Aufgabenbereiche Arbeitsvermittlung und Leistungsgewährung im Rahmen des JobCenters sehr bewährt hat. Der Gemeinderat habe dazu bereits einmal - am 19.04.2007 - in einer Resolution Stellung genommen. In gewisser Weise setze die aktuelle Resolution nur das fort, was der Gemeinderat schon damals mehrheitlich beschlossen habe.

Es sei misslich, dass das Bundesverfassungsgericht den § 44 b des SGB II für verfassungswidrig erklärt hat, aber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts enthalte auch einen positiven Aspekt, nämlich die klare Bekräftigung der Eigenverantwortlichkeit der Kommunen und das klare Bekenntnis zur kommunalen Selbstverwaltungsgarantie.

Da das Gericht dem Gesetzgeber eine Frist gesetzt habe, müsse in absehbarer Zeit eine Lösung gefunden werden. Dafür gebe es drei Möglichkeiten: Erstens eine Verfassungsänderung, die nicht ganz unproblematisch und deswegen nicht mehrheitsfähig gewesen sei, zweitens die Möglichkeit einer sogenannten "verfassungsfesten" Lösung, die in jedem Fall zur Trennung von Arbeitsvermittlung und Leistungsgewährung führen würde, die man aber in Stuttgart nicht wolle, und drittens, den Gesetzgeber dazu aufzufordern, die Möglichkeit zur Option zu erweitern.

Die im Bundestag vertretenen Parteien würden querbeet die Position vertreten, dass der Bund, wenn er schon erhebliche Mittel in den Bereich der Arbeitsvermittlung gibt, dort auch das Sagen behalten sollte. Die Bereitschaft, die Optionsmöglichkeiten auszudehnen, sei gering. Das betreffe sowohl die Frage der Entfristung als auch die Frage der Ausweitung der Optionsmöglichkeit selbst.

Angesichts der positiven Erfahrungen - und hier könne man nicht von Lobhudelei sprechen, sondern man müsse ganz ausdrücklich ein Lob an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des JobCenters richten für ihre hervorragende Arbeit - sei es richtig, den Bundesgesetzgeber auffordern, der Stadt Stuttgart die Möglichkeit zu geben, im Rahmen einer Option dieses erfolgreiche Modell fortzuführen. Er stimme deshalb der Resolution gerne und uneingeschränkt zu.

StR Adler (SÖS und LINKE) erklärt, dass die Optionskommune ein richtiges Ziel sei, das auch er vorbehaltlos unterstütze. Man stimme aber gar nicht darüber ab, sondern über eine Resolution an die Bundestagsfraktionen, an die Landesregierung und an das BMA. Hätten sich die Resolution und der Begründungstext der Verwaltung darauf beschränkt, die richtig aufgeführten Vorteile des Optionsmodells aufzulisten, hätte er kein Problem, der Resolution zuzustimmen. Da sie das aber nicht tun, werde er sich bei der Abstimmung enthalten. Die Resolution leiste nicht, was er von ihr erwarten würde, weil sowohl die Begründung des Beschlussantrags als auch Teile der Resolution Schönfärberei der fatalen Absichten und Wirkungen der Reformen von 2005 - wie z. B. ein ausufernder Niedriglohnsektor, dessen Ergebnis Altersarmut sein werde - sind.


Abschließend stellt OB Dr. Schuster fest:

Der Gemeinderat beschließt bei 1 Enthaltung mehrheitlich wie beantragt.

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